Die blaue Barriere. Helmut H. Schulz
werden es sehen", sagte ich verdrossen über seine Fragen.
"Nix sehen wir", sagte mein Bruder. "Ich kenn dich doch. Wir wollen jetzt essen. Ich bin seit Mitternacht auf den Beinen."
Die Außenscheiben waren blank geworden. Der Rudergänger schob die Fenster auf. Schwüle, mit Feuchtigkeit gesättigte Luft spürten wir auch draußen. Eine Warmfront ging durch, und Richard hatte mit seiner Wettervorhersage recht, wie immer. Über uns wölbte sich ein leuchtender Himmel, aber das Sonnenlicht war trübe, als fiel es durch gefärbtes Glas. Weiter voraus, in Nordwest, brachen die kurzen weißen Pfoten der Krappseen auf.
Die Kajüte stank nach Dieselöl, Schweiß und gestockter Kleidung. Schwere Seestiefel, gummierte Jacken, Hosen, Mützen, Schutzhelme, Tauwerk und mächtige Taljen, alles lag unordentlich herum. Der Bootsmann, Bestmann oder wer sonst hier die Aufsicht führte, legte wohl wenig Wert auf Ordnung. Richard war jedoch eher ein Fanatiker der Ordnung, deshalb fiel mir dieses Durcheinander wahrscheinlich überhaupt nur auf.
Melitta und mein Bruder begegneten sich zum ersten Male. Er musterte seine künftige Schwägerin in einer Mischung aus Selbstbewusstsein und Verlegenheit. Melitta trug Hosen mit einem weiten Schlag, einen Pullover, der sich über den Brüsten spannte, und eine helle, kurze Lederjacke. Sie lachte ein bisschen viel und stellte pausenlos Fragen, aber die Männer blieben einsilbig. Sie wussten nicht, wie sie sich ihr gegenüber benehmen sollten. Ihre eigenen Frauen waren einfacher, Fremden gegenüber zurückhaltender. Auf Melittas Fragen folgte ein kurzes Ja oder Nein. Es war eine Quälerei, aber ich konnte ihr nicht helfen. Sie würde es nicht begreifen, dass Schweigen in diesem Kreis nicht für unhöflich galt.
Schließlich war es mir egal, ich trank schwarzen Kaffee, aß geräucherten Fisch und kaute Richards altes Brot. Die Kinder, Anna und Torsten, saßen mit trübverschlafenen Gesichtern zwischen uns und tranken heiße Milch aus den dicken, gesprungenen Tassen der Kombüse. Zu Hause waren beide an sauberes weißes Essgeschirr gewöhnt, mit dünnen gerösteten Brotscheiben und einem weich gekochten Ei begann ihr Morgen vor dem Schulgang. Alles hier war ihnen ungewohnt, die Enge, der Dreck und der Gestank, der Maschinenlärm und die wortkargen älteren Männer. Eine Seefahrt hatten sie sich ohne Zweifel anders vorgestellt.
Die vierzehnjährige Anna glich ihrer Mutter, der zwölfjährige Torsten mochte seinem Vater ähnlich werden, den ich mehrmals kurz gesprochen hatte.
Gegen Ende des Frühstücks langte Richard in die Jackentasche und zog zwei Schokoladenriegel raus. Er reichte sie den Kindern, die sich erstaunt bedankten, nach einem Blick zur Mutter.
"Das war doch nicht nötig, Herr Johannsen", sagte Melitta.
Es klang wie eine Phrase, war aber bloß Überraschung. "Nötig war das woll nicht, junge Frau", sagte mein Bruder, "ich habe selber zwei Gören."
Er begann, seinen tassentopfgroßen Knösel mit Tabak zu stopfen, und die Unterhaltung endete für jetzt.
Das Schiff machte schnellere Fahrt, die metallenen Gegenstände in der Kajüte klingelten leise wie verborgene Glocken. Mein Bruder und ich gingen an Deck. Binnen einer kleinen Stunde hatten sich Meer und Himmel verändert, sie flossen zu einem bläulichen Schlamm zusammen, der Sturm bedeutete keinen schweren, eher eine kräftige Brise. Trat die Sonne für kurze Augenblicke hinter den schnell ziehenden Wolken hervor, dann leuchteten die Kämme der Wellen wie Messerklingen auf. Das Schiff gierte nach Luv, es rollte, fiel schwer in die Wellentäler. Mein Bruder sagte dem jungen Rudergänger ein kurzes Wort. Er drehte am Rad, und die richtig geschnittene Welle lief rauschend unter unserem Kiel durch und hob das Heck ...
Damals, als die Bergungsschlepper vor Skagen erschienen waren, hatte ich mit vergipstem Arm an Deck der ATLANTIK gestanden und in den Morgendunst geglotzt. Einen der Schlepper hatte mein Bruder unter Kommando gehabt, und ich suchte sein Schiff in dem Rudel, das uns entgegen schipperte. Da war mir der Gedanke in den Kopf gekommen, unter Richard wäre die ATLANTIK nicht leckgedrückt worden, dem wäre das nicht passiert, diesem ewig misstrauischen Hund, der an seinem eigenen Schiet roch und keinem Wetterbericht glaubte, sondern sich sein eigenes Wetter machte. Blödsinn, natürlich, eine unbegründete Vermutung. Aber ich war immer der Meinung, dass man Wetter nicht genau vorhersagen kann, bloß beschreiben, was längst vorbei ist ...
"Wie lange willst du bei der Alten bleiben?", fragte Richard, als wir jetzt an Deck standen und der Wind unser Zeug blähte.
"Einen Tag oder drei Wochen, je nach dem, das hängt von Muddern ab", sagte ich.
Geschickt setzte er den Tabak in Brand und sagte: "Sie ist noch schrulliger geworden."
Das Schiff krängte, und Richard legte seine Pratzen auf das Schanzkleid.
"Wie gefällt sie dir?", fragte ich, auf Melitta anspielend.
"Schön anzusehen", antwortete er, "aber zwei Kinder und nicht von dir. Das ist deine Sache, aber sie passt auch nicht zu uns. Vielleicht kieken wir in den nächsten Tagen mal in."
"Das wär ganz schön", sagte ich.
"Ich verspreche es nicht", schloss er, denn Melitta erschien mit Anna und Torsten an Deck. Die beiden hatten es in der Kajüte nicht mehr ausgehalten. An Deck, im Freien, wurde ihnen besser. Wir stellten uns in den schmalen Gang zwischen Aufbauten und Schanzkleid. Der kräftige Wind traf uns voll. Melitta knöpfte Torsten den Anorak zu.
"Setzen Sie ihm man noch die Mütze drunter auf, sagte Richard. "Der Wind geiht dörch und dörch."
Mit Zähnen und den festen grauen Lippen schob er die Piepe im Munde hin und her.
Melitta tat es, sie gehorchte, sie unterwarf sich. Jedenfalls erschien es mir so, weil sie prompt seiner Anordnung folgte. Torsten wurde dick eingepackt, und das alles war ja auch vernünftig. Melitta band sich selber ein Halstuch um das Haar. Nur Anna vergrub die Hände tief in den Manteltaschen und hielt ihr Gesicht in den Wind.
"Fragen Sie mal Ihren Bruder, was sein Arm wirklich macht, Herr Johannsen", sagte Melitta. "Mir sagt er kaum die Wahrheit, spielt den Helden."
"Hebb ick schon", sagte Richard. Er hatte nichts gefragt.
Melitta behauptete: "Noch kann er keinen Eimer Wasser tragen."
"Muss er das denn bei Ihnen?", fragte Richard. Prüfend klopfte er mit dem Handrücken gegen meinen rechten Arm. "Und wollen Sie ihn denn dann füttern, wenn hei nich wedder up See geiht?"
"Wie meinen Sie das?", fragte sie zurück. "Und weshalb sollte ich ihn füttern, wie Sie es nennen?"
"So", sagte Richard. "Es kam mir gerade so in den Sinn. Na, Sie werden ja woll wissen, was Sie wollen."
Er verstand sie ebenso wenig wie sie ihn. Bei Richard hatte ein Mann für sich selbst einzustehen und außerdem noch für seine Familie zu sorgen. Das war seine Aufgabe. Er schwieg lange, nahm die Pfeife aus dem Mund und spuckte ins Wasser. Torsten lächelte ein wenig und sah die Mutter an. Ich unterdrückte ein Grinsen.
"Ich meine", sagte Melitta, "das eine hat mit dem anderen auch nichts zu tun. Schließlich gibt es noch andere, körperlich leichtere Berufe als den des Seemannes."
"Ja", sagte Richard, "andere Berufe, die gibt das wohl, wenn man sie gelernt hat. Ole hat aber nix anderes gelernt als ein bisschen funken und Ruder gehen. Wenn er will, findet er noch raus, wo sein Schiff steht. Mehr kann er nicht, junge Frau. Büschen wenig für einen Invaliden, nicht? So ist das und kein ein bisschen anners."
Und wieder verebbte das Gespräch. Wir standen eine ganze Weile wortlos auf dem stampfenden und schlingernden Schiff. Anna starrte hingerissen auf das schäumende Meer. Torsten lehnte mit dem Rücken an die Mutter. Plötzlich zog Richard ihn an sich. Es fiel mir auf, als für meinen Bruder ungewöhnlich.
"Gefallt euch das?", fragte ich die beiden. Sie nickten.
"Ihr werdet mir hier doch nicht die Sprache verlieren", sagte Melitta. Dann fragte sie meinen Bruder, wann wir denn in Wustrow ankommen würden. Sie wollte keine Spannung mit ihrem künftigen Schwager, und ich wollte sie auch nicht.
"In einer knappen Stunde", erklärte