Die weitere Geschichte des Rauhen Hauses von 1939 bis 2018. Jürgen Ruszkowski
und hat einen Sohn.
Jungen der Schönburg singend
Jungen des Rauhen Hauses spielen mit der Modelleisenbahn
Im Wichernsaal fand um 1966 täglich eine Andacht statt,
in der Regel von einem der Brüder mit Ansprache gehalten.
Erziehungsarbeit in den 1950er Jahren
Der Herausgeber dieses Buches schreibt in sein Tagebuch:
3. Juni 1955, 23 h: „Stellungswechsel. Ich bin gerade damit fertig, meine Sachen einzuräumen. Soeben bin ich umgezogen. Ab sofort habe ich im Erziehungsdienst zu arbeiten. Meine neue Wirkungsstätte ist die Familie „Kastanie oben“.
Bruder Walter Mahnke übernimmt die Familie ‚Kastanie oben’. Er ist ein recht reifer Mensch, macht seinen „Job“ sehr gut und mit vollem Einsatz, ist pedantisch genau und gerecht und genießt bei den Jungen eine natürliche Autorität.
Im Haus ‚Kastanie’ sammelte er seine ersten Erfahrungen als Erzieher.
Einen guten Einblick in den Alltag des Erziehungsdienstes gibt ein Aufsatz, den der Herausgeber dieses Bandes am 9. September 1955 im Deutschunterricht unter dem vorgegebenen Thema schreibt:
Meine Aufgabe als Erziehungsgehilfe
bei der Arbeit in einer Jungenfamilie des Rauhen Hauses
Als Diakonenschüler des Rauhen Hauses stehe ich neben meiner theoretischen Ausbildung in der praktischen Arbeit als Erziehungsgehilfe. In einer Schülerfamilie betreue ich mit zwei anderen Diakonenschülern, die ‚Brüder’ genannt werden, 19 Jungen im Alter von 12 bis 15 Jahren. – Was bedeutet ‚Familie’? In der natürlichen Familie sind die besten Erziehungsmöglichkeiten gegeben. Wir versuchen, diese Familie so gut wie möglich zu ersetzen. Es wird uns wohl nicht ganz gelingen; denn uns fehlen ja der Vater und die Mutter. Ein junger Erzieher von ca. 25 Jahren kann auch schlecht den Vater bei dreizehnjährigen Jungen ersetzen. Deshalb soll er den älteren Bruder der Jungen darstellen. Die ganze Jungengruppe zusammen mit den Erziehern bildet so unsere Familie. Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass wir Erzieher mit den Jungen zusammen essen, zusammen mit ihnen in einem Zimmer schlafen, überhaupt das ganze Leben gewissermaßen mit ihnen teilen. – Wir bewohnen mit unserer Familie eines der vier Häuser, die den Bombenangriff im letzten Kriege überstanden haben. Es ist also ein älteres Haus, das Haus ‚Kastanie’. Im oberen Stockwerk stehen uns 9 Räume zur Verfügung. Sieben davon werden von den Jungen bewohnt. In jedem Zimmer stehen zwei bis vier Betten. – Man kann bei unseren Jungen nicht von ‚schwer erziehbaren’ sprechen, aber doch werden in den meisten Fällen die Eltern nicht mit ihnen fertig und schicken sie dann zu uns. Bei vielen leben die Eltern in Scheidung oder auch getrennt und vertrauen uns ihre Kinder an. Die Jungen besuchen teils die Volks-, teils die Oberschule. Die kleinsten in unserer Familie sind im 6., die ältesten im 9. Schuljahr. – Was ist nun meine Aufgabe in dieser Familie? Ein älterer Bruder, der im letzten Ausbildungsjahr steht, ist bei uns Familienleiter. Mit einem anderen Bruder zusammen stehe ich ihm als Gehilfe in seiner Arbeit zur Seite. Wir haben uns die anfallende Arbeit aufgeteilt, so dass jeder von uns seine Aufgaben hat. Der Familienleiter hat natürlich die Verantwortung für alles und daher auf alles zu achten. Er hat uns Gehilfen sozusagen von seiner Arbeit etwas abgegeben. So kümmert sich der zweite Gehilfe, der schulisch etwas mehr vorgebildet ist, als ich, um die Schularbeiten der Jungen und hat nebenbei noch einige andere kleine Aufgaben. Ich habe für die Aufsicht beim Spielen sowie für die Fluraufsicht aufzukommen und bin für die Sauberkeit und Ordnung verantwortlich. So muss ich zum Beispiel prüfen, ob die Jungen morgens ihr Hausgeschäft ordentlich erledigen, muss die Ordnung in den Zimmern und den Schränken überprüfen. Ich muss sehen, dass die Jungen sich regelmäßig und ordentlich waschen, dass sie ihre Schuhe putzen und überhaupt ihre Sachen in Ordnung halten. – Wie sieht nun so ein Alltag für mich in der Familie aus? Morgens um 5.30 Uhr stehe ich auf. Um 6 Uhr, wenn die Jungen geweckt werden, muss ich ‚einsatzbereit’ sein. Ich halte mich hauptsächlich auf dem Flur auf, sehe hin und wieder in die Zimmer, um nach dem Rechten zu schauen. Die Jungen machen dann die Räume sauber und melden ihr Hausgeschäft bei mir ab. Das geht bis kurz vor sieben Uhr. Dann gehen wir geschlossen in den Esssaal im ehemaligen Schulgebäude zum Frühstück. Bis 8 Uhr sind alle Jungen zur Schule, soweit sie nicht zur Schule müssen, in der ‚Freizeitfamilie’. Ich selber habe den Vormittag über Unterricht. Komme ich mittags gegen 13 bis 13:30 Uhr aus dem Unterricht, so sind dann auch schon einige Jungen von der Schule zurück. Die übrigen kommen bis 15 Uhr nach und nach an. Dann geht in dieser Zeit immer ein Bruder mit einigen Jungen zum Mittagessen. Von 13 bis 16 Uhr ist die Lernstunde angesetzt, in der die Jungen ihre Schularbeiten machen oder die Aufgaben erledigen, die sie vom Familienleiter zur Übung aufbekommen, denn die meisten unserer Jungen stehen in der Schule sehr schlecht, und wir haben es uns zur Hauptaufgabe in unserer Familie gemacht, die schulischen Leistungen der Jungen zu verbessern, damit sie nach Möglichkeit bessere Zeugnisse bekommen. Denn an den Zeugnissen wird der Erfolg unserer Arbeit von den Eltern doch in erster Linie gemessen. – In dieser Lernstunde muss völlige Ruhe im Hause herrschen. Dafür zu sorgen, ist in dieser Zeit meine Aufgabe. Nebenbei sehe ich auch bei Überlastung der anderen Brüder die Hausaufgaben nach. – Nach dieser Zeit der Anspannung und Konzentration sollen die Jungen sich wieder entspannen können. Sie haben daher die Möglichkeit, von 16 Uhr bis zum Abendessen um 18 Uhr und danach bis 19:30 Uhr draußen zu spielen, sich auf dem Zimmer zu beschäftigen, zu lesen oder was sie sonst wollen. Die Aufsicht dabei führe ich. Um 19:30 Uhr machen sie sich zur Nachtruhe fertig. Es werden die Schuhe geputzt, es wird sich gewaschen, das Zimmer aufgeräumt. Um 20:15 Uhr mache ich den ‚Stubendurchgang’. Dabei sehe ich, ob alle im Bett liegen und ruhig sind. Bis 20:30 Uhr können die Jungen noch lesen. Jetzt geht der Familienleiter durch die Zimmer, wünscht den Jungen eine gute Nacht und löscht das Licht. Hiernach kommt für mich die letzte Tagesarbeit: Für kurze Zeit muss ich noch auf dem Flur die Ohren spitzen, um zu hören, ob überall Ruhe herrscht, was aber in der Regel der Fall ist. Dann kann ich mich auf ‚mein’ Zimmer zurückziehen. Dort muss ich aber gut die Lampe verhängen und mich geräuschlos bewegen, um nicht die beiden Jungen zu wecken, die mit mir zusammen in einem Zimmer schlafen. Wenn die Arbeit auch öfter schwer fällt, wenn man oft viel Energie aufwenden muss und der Tag lang ist, so bringt sie doch viel Freude.
Gerhard Jeromin schildert den Alltag in einer Jungenfamilie in Versform:
Ich hab’ noch schnell so auf der Stell’ – so hin und her, so kreuz und quer – mit Qual und auch mit Freude – kein Kollossalgebäude – ein’ Vers – und noch ein’ Vers gemacht:
Ich berichte – Also höret
die Geschichte – ungestöret
(im Gedichte) – nicht empöret!
aller Tage – wie’s so geht
aus der Lage – von früh bis spät
mit der Waage – bei uns hier
meiner Augen – (laut Papier)
Ob sie taugen? – mit Manier
Wird sich weisen – und Unbehagen
So