Noras Tod. Michael Wagner J.
„Man weiß, dass es wehtut, obwohl es einen persönlich nichts angeht. Es tut hier weh“, sagte Sonja und zeigte auf ihr Herz. Keine Anmaßung, keine eingebildete Wichtigkeit. Untergeordnet. Trauer.
Da war sie wieder, meine emotionale Sonja. Aber genau diese Emotionalität liebte ich ja so an ihr. Ihre Menschlichkeit. Es war klar. Gerds Rationalität stand ihrem Weltbild konträr gegenüber. Womöglich machte ihn das für sie attraktiv. Ich beobachtete die beiden, wie sie sich gegenübersaßen und ihre Weltanschauungen aufeinander prallten.
Brauchte es Masochismus, um sich gedanklich in Situationen zu versetzen, die uns Menschen an unsere Grenzen führen konnten? Jeder hatte sicher schon mal einen Kriegsfilm gesehen, in dem Menschen starben. Das gehörte zum Krieg dazu, da wird gestorben. Krieg ist hässlich, da erwartet keiner Menschlichkeit. Wir waren nicht im Krieg, wir waren im Urlaub. Zumindest waren wir es bis vor einigen Stunden gewesen. Und wir waren jetzt in einer Grenzsituation, in der unser Mitfühlen als Menschen und unsere Tatkraft gefordert waren.
So wie man es im Krieg lernt, wie schmerzhaft und dreckig der Krieg ist, wurde es uns jetzt beigebracht, wie es ist, wenn man völlig Fremden dabei hilft, ein vermisstes Kind zu suchen. Man denkt nicht nach, man handelt. War es daher müßig, es sich vorzustellen, weil man es sich nicht vorstellen konnte? Das Denken kommt erst später, dachte ich. Aber verhielten wir uns richtig? Gab es Regeln? Interessante Frage.
„Gibt es Regeln?“ fragte ich in die Runde, „Ich meine, gibt es Regeln, wie man sich verhalten soll, in so einer Situation?“
„Was meinst du?“ fragte Simona. Alle schauten mich an.
„Ich meine, verhalten wir uns richtig. Tun wir, was zu tun ist?“, erklärte ich meine Gedanken.
„Ich denke, wir tun alles, was man von uns erwartet hat. Was sollte man mehr tun? Wir haben gefeiert, wir haben Karten gespielt, wir haben getrunken, wir waren oder wir sind betrunken, man hat uns völlig überrascht und wir haben das Kind gesucht. Was hätte man mehr tun können? Wir haben es nicht gefunden, aber das liegt nicht in unserer Macht“, sagte Sonja mit mehreren Pausen dazwischen.
„Und wir sind emotional sehr beteiligt und das alles geht uns mächtig an die Nieren. Ich kann das natürlich nur für mich sagen. Ist so.“
Sie saß mit zusammengekniffenen Knien auf ihrem Campingstuhl, die Arme auf die Schenkel gelegt, hielt ihre Hände darüber gefaltet. Die Fußspitzen zeigten zueinander. In ihren Augen waren Tränen zu sehen. Sie bemerkte es und wischte sie sich mit einer Hand weg. Simona stand auf und kam zu ihr herüber und nahm sie in den Arm. Sonjas Gesicht verschwand hinter ihren Locken und sie begrub ihre Tränen in Simonas Schulter.
Gerd schaute zu mir herüber und hielt mir die Flasche Cola hin. Ich nahm sie und trank einen großen Schluck. Das Gespräch war beendet. Für jetzt. Ich stand auf und ging zum Toilettenhaus herüber. Der Gang war sicherer, nicht mehr schwankend wie zu Beginn der Suche. Nüchtern war ich noch nicht. Ich schaltete kein Licht an. Das Mondlicht reichte aus, um das Innere des Hauses zu beleuchten. Ich stand sicher eine ziemliche Weile dort und schaute aus dem Fenster. Sonja. Sie trat im Moment in meinen Gedanken hinter Nora zurück.
Nora. War die Kleine noch am Leben? Ich konnte es für mich beantworten: ja, und man konnte sich um jemanden ängstigen, den man noch nicht einmal kannte. Ja, das konnte man.
Ich ging zurück mit dem Vorsatz, meine negativen Gedanken vertreiben zu wollen. Nora war noch am Leben und wir mussten sie nur finden.
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