Feinde der Ashari. Lina-Marie Lang
Ashara-Chroniken
Buch Eins
Feinde der Ashari
Das erste Buch der Keshani-Trilogie
Lina-Marie Lang
DIE NEUEN DYNARI
Nadira war unglaublich nervös. Heute war ein wichtiger Tag, vielleicht der wichtigste Tag in ihrem Leben. Heute fand die Zeremonie statt, mit der sie in den Kreis der Dynari aufgenommen wurde.
Viele Jahre der Ausbildung hatte sie hinter sich. Jahre, in denen sie lesen und schreiben gelernt hatte, Jahre, in denen sie in Geschichte und Etikette unterrichtet wurde. Und vor allem Jahre, in denen sie gelernt hatte, was es heißt, eine Ashari zu sein.
Ashara. Die Kraft der Aiudir, der Schöpfer. Es war Segen und Fluch in einem. Ashara. Nadira hatte das Glück, in einem Land zu leben, in dem die Ashari - die Menschen mit der Gabe des Ashara - angesehen waren. Sie bildeten die Kaste der Dynari, die höchste Kaste in Alluria.
Es gab fünf Häuser der Dynari in Alluria. In jeder der großen Städte eine. Nadira lebte in Seraint, im Hause von Dyn Arthos.
„Es ist bald soweit." Mit diesen Worten riss Aurel, eine Dienerin des Hauses, Nadira aus ihren Gedanken.
„Was hast du gesagt?"
„Es ist bald soweit", wiederholte Aurel.
„Oh. Ja."
„Bist du nervös?"
„Und wie." Nadira versuchte zu lächeln, aber sie hatte das Gefühl, dass es total misslang. Aurel lies sich nichts anmerken.
„Keine Sorge", sagte sie. „Du wirst das schon schaffen."
Aurel war für Nadira mehr als nur eine Dienerin. Sie war eine Freundin, eine Vertraute. In den Jahren als Novizin war Aurel immer für sie da gewesen. Nadira konnte immer mit ihr rechnen, wenn sie jemand zum Reden brauchte. Das machte die Sache um so schmerzhafter. Heute, noch vor der Zeremonie, würde Nadira eine neue, persönliche Dienerin bekommen. Der Gedanke Aurel nicht mehr jeden Tag zu sehen, versetzt Nadrias Herz einen Stich.
„Ich muss es wohl schaffen, oder?", sagte Nadira schließlich.
„Ich fürchte, da musst du durch." Aurel lächelte aufmunternd. Dieses Lächeln half Nadira sonst immer, aber diesmal war es einfach zu viel. Sie war nervös wegen der Zeremonie, traurig Aurel zu verlieren, und sie machte sich Sorgen um ihren Freund Darec.
Darec war etwa zur selben Zeit in das Haus von Dyn Arthos gekommen wie Nadira selber. Er war kein Ashari, aber Anwärter für die Wache. Seit mehreren Wochen war er nun auf einer Reise, eine letzte Prüfung für die angehenden Wächter. Sie hatte gehört, diese Reise sei sehr gefährlich. Eigentlich sollte Darecs Gruppe schon seit einigen Tagen zurück sein, aber bis jetzt hatten sie nichts von ihnen gehört.
„Gibt es etwas Neues von Darec?"
Aurel schüttelte den Kopf. „Noch nichts. Aber du solltest dich jetzt erst einmal auf die Zeremonie konzentrieren. Sorgen machen kannst du dir später wieder, wenn die Zeremonie vorbei ist."
Nadira musste lachen. Natürlich hatte Aurel recht. Sie hatte schon genug Sorgen und sollte sich nicht auch noch den Kopf über Darec zerbrechen. Sicher ging es ihm gut. Vielleicht zog die Gruppe noch durch die Kneipen und Tavernen von Alluria, um die bestandene Prüfung zu feiern. Das war durchaus schon vorgekommen. Die Sorgen vertreiben konnte diese Vermutung aber nicht.
„Ich muss jetzt gehen", sagte Aurel plötzlich.
„Wieso?"
„Du wirst gleich in deine neuen Gemächer gebracht."
Nadira war davon ausgegangen, dass Aurel sie dorthin begleiten würde. „Kommst du nicht mit?"
„Nein. Dyn Arthos selbst wird dich gleich abholen."
Dyn Arthos selbst? Das Oberhaupt des Hauses? Es war ungewöhnlich, dass das Oberhaupt des Hauses eine Novizin zu ihren neuen Gemächern begleitete. Aber Nadira hatte eine sehr enge Beziehung zu Dyn Arthos. Tatsächlich war er wie ein Vater für sie und eigentlich überraschte es sie nicht. Nadira hatte sich auch gewünscht, ihn vor der Zeremonie noch einmal zu sehen.
Aurel drückte Nadira an sich. „Viel Glück bei der Zeremonie", sagte sie. „Und sei nicht so nervös", dann verlies sie den Raum und Nadira blieb allein zurück.
Nadrias Nervosität wuchs und wuchs mit jeder Minute die verstrich. Sie ging im Zimmer auf und ab. Eine große Veränderung in ihrem Leben stand unmittelbar bevor. Wie würde sie mit ihrem neuen Leben klarkommen? War sie bereit für die Verantwortung? War sie gut genug vorbereitet?
„Bist du dann soweit?"
Nadira zuckte zusammen. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, dass sie nicht bemerkte hatte, wie Dyn Arthos den Raum betreten hatte.
Sie starrte ihn einige Sekunden lang erschrocken an, dann fiel ihr plötzlich ein, dass ihr Benehmen zu wünschen lies. Sie machte einen Knicks. „Dyn Arthos. Ich freue mich, Euch zu sehen."
„Du siehst nervös aus."
„Das bin ich auch."
Dyn Arthos lächelte sie an. Es war ein sanftes, wissendes Lächeln. Er kannte das Gefühl und hatte vermutlich schon viele Novizen in dieser Situation erlebt. „Du wirst es schon überstehen", sagte er. „Komm. Ich bringe dich in deine neuen Gemächer."
Nadira warf einen letzten Blick auf ihr Zimmer. Es war ein einfaches Zimmer. Auch nicht besonders groß und nur mit einem Bett, einem Kleiderschrank und einem Tisch mit zwei Stühlen ausgestattet. Aber hier hatte sie viele Jahren gelebt, es war ihr Zuhause, ihr Raum. Es fiel ihr schwerer ihn zu verlassen, als die gedacht hatte. Aber dann riss sie sich los und ergriff Dyn Arthos ausgestreckte Hand.
***
Dyn Arthos führte Nadira aus dem Haus der Novizen hinaus. Als sie den zentralen Platz erreichten, um den alle Gebäude des Hauses von Dyn Arthos angeordnet waren, sah Nadira ein weiteres bekanntes Gesicht. Das zarte Gesicht wurde von flammend roten Locken eingerahmt. Als sie Nadira entdeckte stahl sich ein Lächeln auf das Gesicht und sie kam auf Nadira und Dyn Arthos zu. Wie die Etikette es verlange, grüßte sie als erstes Dyn Arthos. Sie machte einen Knicks vor dem Herrn des Hauses und senkte bescheiden den Blick. Nadira entging das leicht spöttische Lächeln nicht. Larana hatte noch nie wirklich viel von Etikette gehalten. Aber zum Glück galt das auch für Dyn Arthos.
Die Begrüßung für Nadira fiel wesentlich weniger offiziell aus. Larana fiel ihr einfach um den Hals. „Bist du nervös?"
„Bis du mich gerade dran erinnert hast, war ich es nicht", sagte Nadira mit einem Lächeln.
„Das tut mir leid." Das spöttische Glitzern in Laranas Augen verriet, dass es ihr gar nicht leidtat. „Ich wollte dich noch mal drücken, bevor du zu wichtig geworden bist."
Larana war keine Dynari und gehörte auch nicht zum Haus von Dyn Arthos. Allerdings verfügte auch sie über Ashara. Die meisten Menschen die über Ashara verfügten, wurden von den Dynari aufgenommen. Aber es gab Gründe sich dagegen zu entscheiden: Wer ein Dynari werden wollte, musste seine Familie verlassen. Nadira konnte sich an ihre leiblichen Eltern gar nicht mehr erinnern. Sie hatte fast ihr ganzes Leben im Haus der Dynari verbracht.
Laranas Eltern wollten ihr Kind nicht hergeben. Deshalb hatten sie sich entschieden, sie nicht zu den Dynari zu geben. Zwar musste sie einige Zeit dort verbringen, um eine Grundausbildung zu erhalten, aber sie war keine Dynari, sondern „nur" eine Ashari. Nadira und Larana hatten sich kennengelernt, als Larana zur Grundausbildung im Haus von Dyn Arthos gewesen war. Schnell hatte sich eine enge Freundschaft entwickelt.
Heute würde Nadira in einen höheren Stand erhoben werden, was die Beziehung zu Larana verkomplizieren würde. Jedenfalls offiziell. Aber Nadira hatte nicht vor, die offiziellen Regeln, die Etikette und den Stand zwischen sich und ihre Freundin kommen zu lassen. Da Larana keine Dynari war, wohnte sie auch nicht im Haus von Dyn Arthos. Deshalb trafen sie sich nicht so oft, wie