Feinde der Ashari. Lina-Marie Lang
Dienerin hat ganz recht, mit dem, was sie sagte", fuhr Dyn Arthos fort. „Du darfst nicht gegen den Fokusstein ankämpfen. Du kannst ihn nicht mit deinem Willen beherrschen. Du musst ihn zu einem Teil von dir machen. Du musst ihn akzeptieren und in dich aufnehmen."
Nadira sah Aurel nachdenklich an. „Sie hatte wirklich recht?" Aurel sah stolz aus, auch wenn er das Lob nicht direkt an sie gerichtete hatte, hatte er sie doch gelobt.
„Ja. Das hat sie."
„Du schnappst wohl mehr auf, als du zugeben willst", sagte Nadira zu Aurel.
„Ich bin nur aufmerksam."
„Ich wollte sehen, wie es dir geht", sagte Dyn Arthos zu Nadira. „Ob du inzwischen besser mit dem Fokusstein zurechtkommst. Und ich wollte dir einige Tipps geben, falls das nicht der Fall ist." Er warf Aurel einen Blick zu und lächelte sie an. „Aber ich sehe, du bist in guten Händen."
Dyn Arthos verabschiedet sich und Nadira legte sich wieder auf ihr Bett. Aurel strahlte noch immer bis über beide Ohren, und Nadira dachte über das nach, was sie heute erfahren hatte. Aber bald holte die Erschöpfung sie ein, und sie schlief ein.
Vom nächsten Tag an versuchte sie anders mit dem Fokusstein umzugehen. Aber es gelang ihr nicht. Sie wusste einfach nicht, wie sie ihn zu einem Teil von sich machen sollte. Das ist doch Unsinn. Er ist nur ein Objekt, ein Ding, das an meiner Stirn klebt, sagte sie sich. Sie brauchte noch einige Tage, um zu verstehen, dass der Fokusstein mehr war. Er war auch Ashara. Der Fokusstein verband sich mit dem Ashara seines Trägers, oder genau gesagt, der Person auf die er eingestellt war.
Nachdem sie das verstanden hatte, schaffte sie es, sich zu öffnen. Und mit der Zeit fiel es ihr leichter sich mit dem Fokusstein zu verbinden. Er war nicht mehr eine Kraft, die von außen auf sie einwirkte, sondern er wurde zu einer Unterstützung ihrer Kraft. Als sie das geschafft hatte, fing sie an Spaß daran zu haben. Sie fing an, mit dem Fokusstein zu experimentieren. Sie bemerkte, dass sie weniger ihrer eigenen Kraft aufwenden musste und das Verwenden des Ashara somit weniger anstrengend wurde. Auch die Probleme mit ihrer Gabe verschwanden. Schon bald konnte sie die Gabe wieder kontrollieren. Und so wurde sie, ohne es wirklich zu bemerkten, zu einer echten Dynari.
ERSTE AUFTRÄGE
Nadira saß an ihrem Schreibtisch und wollte etwas lesen. Aber sie schaffte es nicht, sich auf das Buch zu konzentrieren. Sie machte sich zu große Sorgen um Darec. Er und seine Gruppe waren nun schon mehrere Wochen überfällig. Hauptmann Selius machte sich noch keine Sorgen. Nach wie vor galt, dass bei so einer Reise der Zeitplan leicht durcheinandergeraten konnte. Aber für Nadira sah die Sache anders aus, sie machte sich Sorgen. Sie wusste, dass Darec zuverlässig war. Dehalb befürchtete sie, dass der einzige Grund für seine Verspätung der sein konnte, dass ihm etwas zugestoßen war.
Dabei spielte natürlich auch Nadiras Unerfahrenheit mit Reisen eine Rolle. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es manchmal schwierig war einzuschätzen, wie lange eine Reise dauern würde. Darec war nicht nur auf einer Reise, er war auf einer Prüfung und dabei ergaben sich noch viel mehr mögliche Verzögerungen. Außerdem bestand die Gruppe aus jungen Männern, die sicherlich auch den einen oder anderen Tag in Tavernen verschwendeten. Auch wenn es offiziell niemand zugab, diese Prüfung hatte auch den Zweck, dass die jungen Männer sich die Hörner abstoßen konnten. Dadurch sollten sie zuverlässiger werden, um ihre Pflicht bei der Wache besser ausfüllen zu können.
Lautes Klopfen riss Nadira aus ihren Gedanken. Da Aurel nicht hier war, musste sie die Türe selbst öffnen, davor stand Dyn Arthos.
„Ich habe eine Aufgabe für dich", sagte er.
Nadira bedeute ihm hereinzukommen. Sie bot ihm einen Stuhl an, aber er lehnte ab. „Ich bleibe nicht lange. Ich habe nur eine Aufgabe für dich."
„Und was für eine Aufgabe?"
„Eine Frau aus der Stadt hat sich an uns gewandt. Sie ist überzeugt, dass ihre Tochter über Ashara verfügt", sagte Dyn Arthos.
„Bekommen wir nicht oft solche Hinweise?" Viele Menschen wünschten sich, dass ihre Kinder Ashara besaßen. Es bedeutete nicht nur einen Aufstieg für das Kind, sondern auch für die Familie. Die Dynari unterstützten die Familien der Kinder, die als Novizen aufgenommen wurden. Allerdings wurden die Kinder von der Familie getrennt, sie wuchsen als Kinder der Dynari auf. Ohne Vater und Mutter, sondern als Teil einer großen Familie, eben der Dynari.
Nadira konnte sich an ihre Eltern nicht mehr erinnern. Sie kannte nicht einmal ihre Namen und wusste auch nicht, wo sie lebten, oder ob sie überhaupt noch lebten. Manchmal dachte sie darüber nach, aber meistens nicht. Sie war schon früh zu den Dynari gekommen, wie fast alle Novizen und sie kannte es nicht anders.
„Natürlich bekommen wir oft solche Hinweise", sagte Dyn Arthos. „Aber wir müssen ihnen auch nachgehen."
„Und was soll ich tun?"
„Du wirst zu dieser Familie reisen und das Kind prüfen." Reisen? Wo lebte diese Familie denn? Sollte das Nadrias erste Reise werden? Ein aufregender Gedanke, aber auch ein beunruhigender. Wenn sie auf eine Reise gehen musste, dann würde sie nicht hier sein, wenn Darec zurückkam.
„Wo lebt diese Familie?"
„In Seraint, es ist nicht weit. Die Aufgabe sollte dich nicht mehr als ein paar Stunden beschäftigen." Also doch keine Reise. Nadira war sowohl erleichtert als auch enttäuscht. „Ich denke, es sollte dir leicht fallen, diese Aufgabe zu erfüllen", sagte Dyn Arthos. „Du musst ja keine komplizierten Tests machen, sondern das Kind nur ansehen."
Nadira nickte. „Und wenn es über Ashara verfügt, soll ich es dann mitbringen?"
„Nein. Wir geben ihnen ein paar Tage Zeit, sich zu verabschieden. Wenn es über Ashara verfügt, sag der Mutter, dass du es in drei Tagen abholen wirst."
„Gut", sagte Nadira. „Und wenn es über kein Ashara verfügt?"
„Dann sagst du der Mutter, dass ihr Kind kein Ashari ist", sagte Dyn Arthos. Er wollte sich gerade zum Gehen umwenden, dann fügte er jedoch hinzu: "Wenn du wieder zurück bist, erstattest du mir Bericht."
***
Nadira lies sich von Aurel zurecht machen. Als Dynari musste sie immer gepflegt aussehen. Das bedeutete vor allem: langwieriges Zurechtmachen der Haare. Ohne Aurel wäre Nadira schon lange verzweifelt. Zum Glück aber hatte sie Aurel und so war es zwar immer noch nervig, aber immerhin nicht zum verzweifeln.
Als ihre Haar saßen, und sie in ihrem Kleid steckte, griff Nadira nach ihrem Diadem und setzte es auf. Der Fokusstein verband sich sofort mit ihrem Geist. Inzwischen war das Gefühl für Nadira vertraut und sie kämpfte nicht mehr dagegen an.
Nadira ging auf die Türe zu und sagte zu Aurel: „Ich bin in einigen Stunden wieder zurück."
„Hast du nicht etwas vergessen?"
Nadira sah an sich herab. Kontrollierte ihre Kleidung, dann ihr Diadem. Alles war da. Aurel schmunzelte. „So etwas meinte ich nicht."
„Was meinst du denn?"
„Eine Dynari verlässt doch nie ohne Hüter das Haus." Ein Hüter. Aurel hatte natürlich recht. Ein Hüter war eine Art persönliche Wache für die Dynari. Die Wache selbst war für die ganze Stadt zuständig. Sie schützen die Dynari, die normalen Leute, eben alles. Ein Hüter hingegen war für einen bestimmten Dynari zuständig. Jeder Dynari erwählte einen Hüter. Es war ein sehr großer Vertrauensbeweis, zum Hüter erwählt zu werden. Aber Nadira hatte noch keinen erwählt.
„Ich habe keinen Hüter", sagte Nadira.
„Ich weiß. Dann musst du jemand von der Wache mitnehmen."
Nadira seufzte. Sie hatte keine besondere Lust, jetzt nach einer Wache zu suchen.
„Weißt du überhaupt, wohin du gehen musst?", fragte Aurel. „Ich meine, kennst du den Weg?"