Limit up - Sieben Jahre schwerelos. Uwe Woitzig

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Himmel erglühte in den Farben Blau, Lavendel, Rosa, Orange und Tiefrot. Der Vogel sang lauter und flog davon, während die ganze Welt in der Verheißung und dem wundervollen Hauch des Morgens erwachte. Plötzlich wurde ich eins mit dem Licht, der Macht und dem ewigen Bestehen dieser mich umgebenden Macht. Wie gebannt schaute ich diesem spektakulären Schauspiel zu, das alle Augenblicke der Zeit gesehen hatte. Das Staunen über sein Wunderwerk erfasste mich und ich verstand, dass ich die starken und ruhigen Wächter war, die am Horizont aufragten. Und ich war die Farben dieser Morgendämmerung, die Bewegung der Zweige in den Büschen, die Tautropfen auf dem Fenstersims und des Vogels liebliches und süßes Lied der Freude. Lächelnd erhob ich mich, ging in die Küche und bereitete mir einen Kaffee. Von einer Wahrheit zu hören, ist eine Sache. Sie zu erfahren und zu verinnerlichen eine ganz andere.

      *

      Am Mittag lag ein dichter, grauer Nebel über dem Tal. Er ragte genau bis an die Oberkante des kunstvoll geschnitzten Holzgeländers, das die Balkone im obersten Stockwerk des dreigeschossigen Holzhauses umgab. Ich stand auf meiner Terrasse und schien über dem grauen Plateau zu schweben, der Oberseite des dichten Nebels, der sich flach und reglos Hunderte von Kilometern weit erstreckte und alle Täler unten ausfüllte als wäre er Schnee. Durch diese Nebeldecke ragten die Gipfel der Alpen hervor, im hellen Sonnenlicht klar und scharf wie Steinchen eines in grauen Marmor verlegten Mosaiks. Und auf einem davon lebte ich jetzt. In diesem Moment empfand ich tiefe Ehrfurcht vor der majestätischen Erhabenheit des Berges, auf dem ich zu Gast war.

      Ich bereitete mir einen Cappuccino und setzte mich an meinen wuchtigen, dreibeinigen Tisch, dessen Platte aus einem runden, 30cm dicken Holzstück bestand, das aus dem Stamm eines Baumes mit fast eineinhalb Meter Durchmesser heraus gesägt worden war und jetzt meine Tischplatte bildete. In kleinen Schlucken schlürfte ich genüsslich meinen Milchkaffee in der Morgensonne, die oberhalb des Nebels an einem strahlend blauen Himmel stand.

      Letzte Woche war ich mit meinen Hunden bei genau der gleichen Wettersituation vor meinem Haus in den Nebel eingetaucht und dann bis Frankfurt unter einer geschlossenen, grauen Wolkendecke gefahren, um dort und in anderen Städten Geschäftstermine wahrzunehmen. Nach 4 Tagen war ich erst spät in der Nacht wieder nach Hause gekommen und sofort todmüde ins Bett gefallen. Irgendwann spürte ich Bugsys und Paulines feuchte Zungen in meinem Gesicht, die mich sanft wach leckten.

      Es war schon spät am Vormittag und sie mussten dringend nach draußen. Lächelnd sprang ich aus dem Bett und wollte ihnen meine gläserne Terrassentür öffnen, die ich vor meiner Abreise mit der davor befindlichen Holztür gesichert hatte. Verblüfft bemerkte ich, dass sich zwischen Terrassentür und den beiden Holztürflügeln eine auf dem Kopf stehende Pyramide befand, die irgendwie mit der Basis an den Türstock geklebt worden war. Sie sah sehr stabil und gleichzeitig sehr zart und zerbrechlich aus. Ratlos starrte ich das Ding an und hatte keine Ahnung, was es sein könnte und wie es hierhergekommen war. Ich trat näher heran und inspizierte es genauer. Es war ein bauliches Meisterwerk. Stockwerk für Stockwerk war vollkommen identisch konstruiert und makellos aneinandergefügt worden. Plötzlich entdeckte ich eine winzige Öffnung, in der sich etwas bewegte. Eine Wespe krabbelte heraus und flog durch einen der herzförmigen Ausschnitte der Holztür ins Freie. Mir stockte der Atem. Ein Wespennest. Direkt vor meiner Schlafzimmertür. Entsetzt erinnerte ich mich daran, wie ich als kleiner Junge eines Tages meinen Fußball suchte, der in kniehohes Gras geflogen war. Mit einem Stock mähte ich das Gras nieder, um den Ball zu finden. Bei einem meiner wuchtigen Schläge traf ich auf etwas Hartes. Sekunden später stürzte sich ein wütender Schwarm Wespen auf mich, deren Behausung ich versehentlich getroffen hatte. Ich rannte wie der Teufel, aber sie waren schneller und erwischten mich. Gnadenlos stachen sie mich in jede freie Stelle meines Körpers. Von denen gab es genug, denn ich trug nur eine kurze Hose und ein T-Shirt. Es tat unglaublich weh und ich schrie wie am Spieß.

      Trotz meiner Schmerzen und Panik wusste ich, dass ich mich unbedingt ins Haus meiner Oma retten musste, die für alle Wehwechen ein Hausmittel hatte. Tatsächlich beträufelte sie wenig später meinen völlig zerstochenen Körper mit Essigsäuretonerde, was die Schmerzen nicht nur linderte, sondern allmählich ganz verschwinden ließ. Auch die Schwellungen gingen zurück und schon nach einer Stunde fühlte ich mich wie neu geboren.

      Seitdem hatte ich einen Mordsrespekt vor Wespen. Und ausgerechnet sie hatten ein Riesennest an mein Haus gebaut. Fieberhaft überlegte ich, wie ich das Nest entfernen konnte. Mein Opa hatte sich es damals von mir zeigen lassen. Dann hatte er einen Kanister Benzin geholt, es damit übergossen und angezündet. Aber damals war es mitten in einer Wiese am Boden errichtet worden. Meins war an einem Holzhaus befestigt, das ich mit der Methode abfackeln würde. Herunterschlagen kam auch nicht infrage, sie würden sich wie damals auf mich stürzen. Plötzlich hatte ich die Lösung. Warum denn überhaupt zerstören? Vielleicht sollte ich sie als meine Gäste betrachten und ihnen mit Respekt und Toleranz begegnen. Warum nicht friedlich mit ihnen Wand an Wand zusammenleben?

      Ich stellte mich ganz dicht vor das Nest, schloss die Augen entspannte mich und sprach aus meiner Versenkung zu den Wespen:

      „Ich begrüße euch in meinem Haus und freue mich, dass Ihr bei mir zu Gast seid. Ich werde Euch nichts tun und Euch wie Freunde behandeln. Dasselbe erwarte ich von Euch. Deshalb werdet Ihr niemals meine Hunde, mich oder irgendwelche Gäste von mir stechen. Im Gegenzug werde ich dafür sorgen, dass Ihr niemals angegriffen werdet, solange Ihr bei mir wohnt.“

      Dann versicherte ich Ihnen noch, dass ich die Holztüren nicht mehr öffnen würde, sodass sie in dem Zwischenraum völlig ungestört sein würden.

      *

      Am späten Nachmittag saß ich auf meiner Terrasse und las, als auf einmal zwei Wespen herbeiflogen. Sie ließen sich auf meinem Arm nieder und krabbelten darauf herum. Ich ließ sie gewähren und dachte ganz fest an unseren Pakt. Nach einiger Zeit flogen sie wieder davon. Ich verstand. Sie hatten mein Angebot akzeptiert. Tatsächlich wurden weder Bugsy und Pauline noch ich noch irgendeiner meiner Besucher gestochen. Geriet jemand in Panik und wollte eine Wespe erschlagen, die sich auf dem Tisch oder seinem Essen niedergelassen hatte oder um ihn herum schwirrte, hielt ich seine Hand fest und erzählte ihm von unserem Pakt.

      Die Bewohner des Tales nickten nur und begriffen sofort. Meine Gäste aus der Stadt sahen mich mit einem merkwürdigen Blick an, folgten aber meinen Anweisungen. Alle blieben verschont, die Wespen waren zuverlässige Partner. Auch ich hielt mein Wort. Nie öffnete ich die beiden Türen, zwischen denen sie ihr Nest gebaut hatten. So vergingen der Sommer und der Herbst in friedlicher Koexistenz. Bis ich eines Morgens im November bemerkte, dass keine Wespen mehr ein – und ausflogen. Vorsichtig öffnete ich die Holztür. Das Nest war leer. Sie waren ausgezogen, wohin auch immer. Als sie im nächsten Sommer nicht zurückkamen, entfernte ich das Nest mit einer Säge. Ich erhielt einen Einblick in sein Inneres, das aus Tausenden von kleinen Kammern bestand, die alle miteinander verbunden waren. Und das alles von oben nach unten gebaut. Auf den tausendstel Millimeter genau. Statisch und architektonisch eine Leistung, die menschliche Baumeister niemals fertigbringen würden. Mein Respekt vor dem Wissen und Können dieser scheinbar so unscheinbaren Insekten wuchs gewaltig. Seitdem begrüße ich jede Wespe liebevoll wie eine alte Freundin.

      Es schmerzt mich, wenn ich mit ansehen muss, wie Menschen sie gedankenlos quälen und töten.

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