ARGUMENTE DER ANKLAGE. Erhard Schümmelfeder

ARGUMENTE DER ANKLAGE - Erhard Schümmelfeder


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Mark, mit mir über meine Geschichten zu diskutieren. Dass er ohne meine Zustimmung in meinem alten Tagebuch gelesen hatte, verschwieg er.

      Aber auch ich verschwieg mein Wissen über seine Heimlichkeiten.

      Wohin soll das führen?

      Mark

      So kann es nicht weiter gehen.

      Ich mache mir ernsthafte Sorgen um Lena.

      Was mir bei den Geschichten und den dazugehörigen Tagebuchnotizen auffiel, ist dies:

      Obwohl Lenas Recherchen äußerst gründlich erscheinen, wird bei näherer Betrachtung ihre Fahrlässigkeit deutlich. Alle labilen jungen Männer in den Texten leiden an einer Persönlichkeitsstörung und besitzen die Merkmale, die jeder halbwegs informierte Zeitgenosse als leichte, möglicherweise gar mittelschwere Depression erkennt, wodurch man zu dem Ergebnis gelangen muss: Der Betroffene wird ohne therapeutische Hilfe sein Leben nicht meistern können.

      Es liegt in Lenas Macht, den betroffenen labilen jungen Männern die notwendige Hilfe angedeihen zu lassen. Aber sie kümmert sich nicht um diesen Aspekt einer möglichen Rettung. Bereitet es ihr Vergnügen, das Leid der Menschen zu zelebrieren?

      Was ich ihr vorwerfe, ist das offensichtliche Verschweigen einer pathologischen Komponente in den beschriebenen Fällen sowie dieses herzlose Verhalten kalkulierter unterlassener Hilfeleistung.

      Ich verstehe: Aus literarischer Sicht betrachtet, gibt eine langwierige Krankentherapie nicht viel an erregender Spannung her. Das grandiose Scheitern eines Menschen ist zweifelsohne unterhaltsamer und zugleich erschütternder.

      Stets wird das Scheitern in düsteren Farben einer betont schmutzigen Realität beschrieben. Die Protagonisten wälzen sich buchstäblich im Dreck. Von den fünfundzwanzig Ausscheidungen, die der Mensch kennt, macht Lena am Schreibtisch reichlich Gebrauch. Es geht nicht ohne Blut; Tränen, Scheiße, Rotze und Kotze gehören zu den Standard-Ingredienzen ihrer Aufrüttel-Prosa. Eine Matratze auf dem feuchtkalten Fußboden einer Behausung wird von ihr erwähnt, wenn sich mindestens ein großer Urinfleck darauf befindet. Ein Waschbecken wird erst interessant, wenn sich in seinem Innern die Spuren von Erbrochenem zeigen. Ein Aschenbecher ist immer überfüllt mit qualvoll zerdrückten Zigarettenkippen, da sich in diesem Bild das Übel des von Sucht zerfressenen Protagonisten veranschaulichen lässt. In dem Bild liegt auch eine positive Deutungsvariante verborgen: Der Labile besitzt noch eine Spur von Ordnungssinn, sonst würde er seine Kippen nicht im Aschenbecher, sondern an den vergilbten Tapeten der Wände ausdrücken. Ist doch wahr! Von dieser Symbolik aber will Lena nichts wissen.

      Ich habe die „Schmutzstellen“ auf den fotokopierten Passagen gelb markiert, um ihre Tendenz zur Effekthascherei auch optisch in ihr Bewusstsein zu bringen.

      Lena

      Ich gab vor, Kopfschmerzen zu haben, als Mark eine Diskussion über Effekthascherei mit mir beginnen wollte. Er spielt sich gern als Schulmeister auf. Dabei ist er nur vier Jahre älter als ich. Das missfällt mir sehr.

      Er wechselte das Thema und redete immerzu von „heiteren Farben“. Seine Frage, ob ich einmal etwas Heiteres schreiben wolle, beantwortete ich nicht.

      Hält er mich für naiv?

      Mark

      Meine ersten zögernden Versuche, mit Lena über ihre Betroffenheitsliteratur zu reden, waren fruchtlos. - Zugegeben: Ich habe es nicht sehr geschickt angestellt. In jedem Fall werde ich das Thema „Farben“ noch einmal zur Sprache bringen.

      In ihren Texten gibt es bei der Beschreibung des Lebens keine Ausgewogenheit, keine hellen Farben: Alles ist grau, öde, trostlos, es ist eine Welt ohne Freude, ohne Humor, ohne Zuversicht. Alles, alles ist schlecht und sinnlos.

      Für mich steht fest: Lena stammt aus einer verhältnismäßig intakten Mittelstandsfamilie (Vater Lehrer, Mutter Ergotherapeutin; keine Geschwister). Sie kennt das sittliche Übel in der Welt nur aus der Distanz, vom Hörensagen, aus dem Fernsehen und aus Zeitungen. Die wenigen Berührungspunkte mit den hässlichen Seiten des Lebens beschränken sich auf Spaziergänge durch die Stadt, bei denen sie heruntergekommene Bettler beobachten konnte. Der in die Drogenszene abgedriftete Freund einer entfernten Freundin wird der stärkste Impuls für ihr Interesse am Scheitern der Betroffenen gewesen sein.

      Lena

      Macht Mark sich vielleicht ernsthaft Sorgen um mich? -

      Ich konnte ihn beruhigen mit der Ankündigung, demnächst eine Geschichte aus der Sicht eines jungen Mädchens zu schreiben.

      Wie leicht es ist, ihn zu lenken!

      Mark

      Gestern noch empfand ich die Situation als bedrückend. Heute geht es mir besser.

      Lena will bald eine Geschichte aus der Sicht einer Zwanzigjährigen schreiben. Die Notizen hierzu seien in ihrem alten Tagebuch, erfuhr ich beiläufig. Ich kenne die Passagen nicht, werde aber einmal einen Blick darauf werfen.

      Lena

      An vier Stellen meines Tagebuches sind Zahnpastatupfer angebracht. Ich habe kein gutes Gefühl bei dieser Sache.

      Ich werde abwarten, was nun geschieht.

      Mark

      Zweifelsfrei steht für mich fest: Lenas Denken unterliegt einer Form von geistiger und emotionaler Verirrung.

      Wahrscheinlich geht es bei ihren Gedankenausflügen in die Welt des Elends um ein peinliches Missverständnis, das sich am besten veranschaulichen lässt durch das Beispiel des Mannes, der in Gesellschaft einen schlechten Witz macht und somit das schallende Gelächter der Leute hervorruft. Man schlägt sich amüsiert auf die Schenkel, krümmt sich vor Vergnügen und wischt sich die Tränen aus den Augen. Der erzielte Effekt veranlasst den Mann bei nächster Gelegenheit, seinen Lacherfolg zu wiederholen, denn die jüngst erfahrene Bestätigung durch die zufriedenen Lacher drängt nach einer Auffrischung. Da der Erfolg auch diesmal nicht ausbleibt, entschließt sich unser Mann, künftig sein Glück als Possenreißer zu versuchen.

      Ähnlich verhält es sich mit Lenas Elendsgeschichten, die sie als allmächtige Schicksalsgöttin am aufgeräumten Schreibtisch ersinnt, um ihre Aufmerksamkeitssehnsucht zu befriedigen. Auch das werde ich mit ihr besprechen.

      Gegen authentische Bücher für eine bessere Welt ist nichts einzuwenden. Es ist sensibel, wenn man das Leiden anderer Menschen wahrnimmt und versucht, dieses zu lindern. Es ist nicht sensibel, das Leiden effektvoll zu zelebrieren, um sich selbst als Fürsprecher und Anwalt der Betroffenen zu profilieren.

      Meine vorsichtig geäußerte Kritik, in ihren Geschichten würden immer labile junge Männer geopfert, um die Gemeinde aufrüttelbereiter Leser zu schockieren, prallte anfangs an ihr ab. Es dauerte ein paar Tage, bis mein berechtigter Einwand von ihr als willkommener Denkanstoß akzeptiert wurde. Habe ich es schon notiert, dass sie auch einmal weibliche Protagonisten in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen stellen möchte? - Mir graust inzwischen bei der Vorstellung, das bisher praktizierte Leidensklischee könnte nun durch junge Mädchen variiert werden.

      Lena

      Alle leicht verklebten Seiten sind wieder gelöst.

      Ich bin sprachlos.

      Was nun?

      Mark

      Es fällt mir schwer, dies aufzuschreiben.

      Als ich morgens allein in der Wohnung war, öffnete ich die Schublade von Lenas Schreibtisch und holte ihr aktuelles gelbes Tagebuch hervor.

      Seit mehr als zwei Wochen keine neue Eintragung.

      Ich blätterte mit schlechtem Gewissen und gesträubten Nackenhaaren in der Kladde zurück. Man liest nicht in den persönlichen Aufzeichnungen anderer Leute, ich weiß. Aber es musste sein. Ich überflog die nach Datum geordneten Notizen und fand die gesuchten Stellen: Lena hat tatsächlich die Grundideen für zwei weitere Betroffenheitsgeschichten


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