Briefe von Kemal Kurt (1947-2002). Ulrich Karger
fünf Briefe von Kemal Kurt an mich. Als „freier“ Schriftsteller sehr beansprucht – durch das parallele Schreiben an kleineren und größeren Projekten, aber auch durch zahlreiche Lesungen und Studienaufenthalten im In- und Ausland – blieben nur wenige Gelegenheiten zum direkten Gedankenaustausch. Daher unsere Anfang 2001 gemeinsam getroffene Verabredung, neben dem üblichen Hin und Her an Telefonaten und Emails ein tiefer schürfendes Kennenlernen mittels „echter“ Briefe als Email-Datenanhang zu versuchen. In zwanzig, dreißig Jahren aus einem entsprechend angewachsenem Konvolut dann womöglich sogar einen „Briefwechsel“ à la Thomas Mann und Hermann Hesse veröffentlichen zu können, war dabei durchaus im Gespräch – scherzhaft, denn das schien uns beiden zwar wünschenswert, in Wirklichkeit aber so fern, wie einmal gleich den angesprochenen Vorbildern den Nobelpreis zu erlangen. Wie so oft im Leben kam es dann ganz anders. Bereits sein fünfter und letzter Brief vom 2. Juli 2001 datiert nur ein Jahr vor seinem Tod: Er wollte, er musste sich unbedingt Zeit freischaufeln für seinen historisch angelegten und in Englisch verfassten „Tulpen-Roman“ – das Drittelfragment einer 400-seitigen Rohfassung so gut wie ausgearbeitet, ist Kemal Kurt kurz vor der Vollendung einer Krebskrankheit erlegen. Doch gerade die Qualität des Vorhandenen dürfte zugleich das größte Hindernis sein, diesen Roman jemals dank einer kongenialen Nachbearbeitung fertig gestellt zu sehen, denn neben der Vielsprachigkeit – Kemal Kurt sprach und schrieb u.a. ein exzellentes Englisch, das selbst mit Idiomen aus dem 18. Jahrhundert vertraut war – setzte dies auch umfassende Kenntnisse des Handlungsortes Istanbul bzw. Konstantinopel voraus. „Schreiben auf Deutsch war für mich immer eine Fronarbeit“, meint Kemal Kurt gleich zu Anfang des ersten Briefes – eine Aussage, die meinem Erleben seiner mündlichen Gewandtheit und der Lektüre seiner wunderbar ausformulierten Romane und Kindererzählungen geradezu kokett zu widersprechen schien. Doch bezog sie sich nicht auf das Ergebnis, sondern eben auf den zeitlichen Aufwand seines Schreibens in deutscher Sprache. So waren in den hier vorgestellten Briefauszügen auch nur sehr wenige Flüchtigkeitsfehler zu korrigieren, und seine zuweilen eigenwilligen Satzumstellungen habe ich bewusst erhalten, weil sie einerseits seine Anstrengung um Verständlichkeit in der ihm fremden Sprache, aber auch sein kreatives Temperament dokumentieren. In seinen fünf Briefen erzählt er ausführlich u.a. von seinen Eltern und der Kindheit, von Auswanderungswellen in die Türkei und seiner letzten Reise in die USA, und er erläutert seine Haltung zu Religion, speziell zum Alewitentum, sowie zum Begriff „Heimat“, dem er in „Was ist die Mehrzahl von Heimat?“ ja ein viel beachtetes Buch gewidmet hatte. Auch der Auslöser für diese Briefe, nämlich sein immer stärker empfundener Zeitmangel, spiegelt sich in ihnen mehrfach wieder. Umso dankbarer war und bin ich dafür, ihr Adressat gewesen zu sein – noch dazu als einer der wenigen, der derart ausführlich in deutscher Sprache überhaupt welche von ihm erhalten hat.
Ulrich Karger, Berlin, im Januar 2013
I. BRIEFE
Die Veröffentlichung der Briefe von Kemal Kurt geschieht im Einverständnis seiner Nachlassverwalterinnen, der Witwe Hildegard Kurt und seinen Töchtern Lena und Meral. Die gemeinsam zum Schutz der Privatsphäre verabredeten Auslassungen sind mit [..] kenntlich gemacht. Überschrieben sind diese Email-Briefe mit den jeweiligen Absendedaten, die darunter mit Spiegelstrichen - in der Printausgabe kursiv - gekennzeichneten Überschriften weisen zur leichteren Orientierung auf die darin von Kemal Kurt angesprochenen Themen hin.
Berlin-Schöneberg, den 1. Februar 2001
Lieber Ulrich,
Du machst wirklich Nägel mit Köpfen. Kaum hatten wir darüber gesprochen, schon fand ich Deinen ersten Brief im Kasten. So muss man es auch machen, sonst verschiebt man es auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Erst wollte ich Dich um eine Gnadenfrist bitten, wo ich doch jetzt gerade allmählich ein wenig zu mir komme und mich vor dem Amerika-Aufenthalt unbedingt um den Wiedereinstieg in meinen Roman kümmern möchte, damit die Zeit dort wirklich produktiv wird. Irgendwann muss ich ja mit diesem Roman fertig werden. Aber gut, warum nicht jetzt schon auf kleiner Flamme anfangen, damit die Sache wenigstens ins Rollen kommt.
Also ich war fest entschlossen, Dir schon am Wochenanfang zu schreiben, da kam der Nord-Süd-Verlag mit einer Übersetzung eines weiteren Eisbär-Buches dazwischen.
[..] Sich einfach mal von Freund zu Freund, von Kollege zu Kollege austauschen. Ich verspreche mir davon, mich mit existenziellen, beruflichen und privaten Themen auseinanderzusetzen, für die man sich sonst die Zeit und die Muse nicht gönnt. Die schriftliche Ausdruckweise wird, denke ich, für eine gewisse Verbindlichkeit und Sorgfalt und tiefer gehende Reflexionen sorgen. Unbedingt sollten die Briefe in zwei Richtungen gehen. Auch Du hast für Dich einen Weg gewählt, der meinem sehr ähnelt, indem Du, anstatt in Deiner schönen, malerischen bayerischen Heimat zu leben, es vorgezogen hat, Dich im grau-kalten Preußenland niederzulassen. Auch Du plagst Dich wie ich mit einer undankbaren schriftstellerischen und darüber hinaus literaturkritischen Tätigkeit. Wie kamst Du darauf? Die Gründe hierfür, Dein Weg dahin, schreien danach, erzählt zu werden. Fang an! Über manche Themen wie Religion hast Du Dir bestimmt viel mehr Gedanken gemacht als ich. Für mich war das praktisch kein Thema – Du wirst Dich wundern, wie wenig ich darüber weiß.
Zeitlich gesehen hat die Sache für mich einen Haken. Schreiben auf Deutsch war für mich immer eine Fronarbeit. Es fließt alles nicht so schnell und gut ausformuliert wie bei Dir aus meiner Feder / meinem Cursor, sondern braucht viel Zeit und Konzentration, verbraucht viel Energie. Ich muss sie ja erstmal haben, von meiner täglichen Arbeit bleibt nicht viel davon übrig. Keinesfalls darf ich zulassen, dass ein fälliger Brief mich innerlich unruhig macht und bedrängt mit der Folge, dass ich eine andere angefangene Sache schluderig mache. Also ich plädiere dafür, keine zeitliche Grenzen zu setzen. Ein Brief muss warten können, bis Zeit und Muse dafür da ist. Wir dürfen einen eine Weile liegengebliebenen Brief nicht als eine Störung empfinden.
– Eigene Kindheit I
In diesem Sinne fange ich an:
Meine Eltern verbrachten ihre Jugend in einem Dorf in der Nähe von Bulgarien. Dort lebten einmal viele Türken, die nach und nach in die Türkei eingewandert sind und das heute noch tun. Das Dorf meiner Eltern kam Ende der zwanziger Jahre geschlossen in die Türkei. Die türkische Regierung wies ihnen Land zu, und sie bauten ihr Dorf an einem anderen Ort wieder auf.
Die Bewohner von Cesmeli erzählen, dass sie unter den Bulgaren sehr gelitten haben und zur Ausreise gedrängt wurden. Fest steht, dass sie alle ein sehr niedriges Bildungsniveau hatten. Auch heute noch sind die Gebiete der türkischen Minderheit in Bulgarien ärmlicher und rückständiger als der Rest des Landes.
Ich bin in diesem Dorf geboren. Ich muss drei Jahre alt gewesen sein, als meine Eltern die Landwirtschaft aufgaben, das Ackerland an Verwandte verpachteten und in die Stadt zogen. Çorlu zählte damals vielleicht 20.000 Einwohner. Mein Vater begann, als Blechschmied Blechöfen herzustellen. Er war unruhig und sehr ungeduldig. Oft wechselte er den Beruf, arbeitete als Fassbinder, Bauer, Blechschmied, Holztransportunternehmer usw., nirgendwo hielt es ihn lang. Offenbar war er handwerklich sehr geschickt, ich weiß nicht, wo er all diese Tätigkeiten gelernt hat.
Ohne Maschinen und lediglich mit wenigen Nutztieren, so erzählten meine Eltern und auch meine älteste Schwester, die diese Zeit als heranwachsendes Mädchen erlebt hat, muss die Landwirtschaft für alle eine harte Knochenarbeit gewesen sein. Auf jeden Fall waren sie froh, nunmehr in der Stadt zu wohnen.
Mein Vater war sehr temperamentvoll. Oft war er sanft, nachdenklich und extrem fürsorglich. Manchmal rastete er aus und zeigte, wie Wutausbrüche aussehen können. Oft ließ er sich an Gegenständen aus. Ich habe aber auch erlebt, wie er einmal meine Mutter und einmal meine Schwester schlug.
Mich schlug er nie. Als der einzige Junge in der Familie und jüngstes der Kinder habe ich von ihm viel Zuwendung erhalten, aber nicht nur von ihm, auch von meiner Mutter und den drei älteren Schwestern. Mein Vater hat mich regelrecht verwöhnt mit allen