Von Liebe und anderen Auswegen. Dorothea Neukirchen

Von Liebe und anderen Auswegen - Dorothea Neukirchen


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aus seiner Jackentasche.

      "Rauchen Sie?"

      "Manchmal."

      Sie nimmt die angebotene Zigarette.

      "Auf der windstillen Seite ist es nicht so kalt", verkündet er, steht auf und geht vor. Marthe lässt sich Zeit und trinkt ihren Kakao aus. Dann knöpft sie ihre Jacke zu und folgt ihm.

      Er will ihr Feuer geben, aber der Wind bläst die Flamme aus. Da zeigt er ihr, wie sie die Hände halten muss. Es ist eine zweckmäßige Berührung, kein Flirt, aber geduldig. Endlich glimmt auch Marthes Zigarette.

      Sie lehnen nebeneinander an der Reling und starren auf die Seitwärtswellen, die vom Schiffsrumpf abgehen. Das weiße Gekräusel verliert sich rasch im schwarzen Wasser.

      "Meine Frau war schwanger. Es ging ihr nicht gut. Wir hatten schon lange nicht mehr..."

      Er trinkt aus der Flasche, die er mit nach draußen genommen hat.

      Orale Kompensation, diagnostiziert Marthe und denkt darüber nach, ob Fremdheit eine gewisse Vertraulichkeit befördert.

      "Dann ein Kongress, ein langer Abend an der Bar, eine attraktive Kollegin, naja, das Übliche halt. - Dummerweise hat meine Frau etwas gemerkt."

      Er inhaliert tief.

      "Von mir aus hätte ich mich nicht getrennt, aber sie meinte, sie hätte kein Vertrauen mehr."

      Er schnippt den Rest seiner Zigarette ins Wasser.

      "Bei der Geburt wollte sie mich nicht dabei haben. So habe ich es erst nach Tagen erfahren."

      "Das mit der Behinderung?"

      Er nickt.

      "Später hat sich herausgestellt dass meine Frau eine Meningitis hatte, eine unerkannte. Ihr Immunsystem hat das irgendwie ausbalanciert, aber der Fötus... Statt Gehirnzellen - Wasser im Kopf."

      Er fährt sich mit den Händen durchs Haar. Sensible Hände, dunkle Locken mit silbrigen Einsprengseln. Marthes Zigarette brennt unbeachtet vor sich hin und versengt ihr den Finger.

      "Au", entfährt es ihr unwillkürlich. "Gelegenheitsraucherin" kommentiert sie sich selber, lacht verlegen und wirft die Zigarette über Bord. Der Mann neben ihr beachtet sie nicht. Er hängt seinen eigenen Bildern nach.

      "Das Kind war lebensfähig, alles dran. - Nur kein Gehirn."

      Ein bitteres Auflachen. Dann holt er eine neue Zigarette aus der Packung.

      "Ich wollte mich kümmern. Aber meine Frau hat das nicht zugelassen."

      Jetzt klopft er mit der Zigarette aufs Geländer. Das ist sinnlos bei einer Filterzigarette. Vielleicht hat er früher einmal Selbstgedrehte geraucht, denkt Marthe. Früher, bevor er sich Kaschmirmäntel leisten konnte.

      "Alle sechs Wochen fahre ich ins Heim. Das Besuchsrecht musste ich mir bei der Scheidung erstreiten. Wahrscheinlich wollte sie, dass ich ein schlechtes Gewissen habe."

      Er zündet die Zigarette an, nimmt einen Zug.

      "Normal wäre mein Sohn jetzt in der Pubertät. Er ist vierzehn."

      Vierzehn. - Vierzehn Jahre ohne Gehirn. Das übersteigt Marthes Vorstellungskraft.

      "He Sie! Rauchen verboten!"

      Ein korpulenter Mann baut sich neben ihnen auf.

      "Wir sind doch extra rausgegangen!" fährt Marthe den Mann an. Aber der lässt sich nicht beirren.

      "Rauchen ist auf der ganzen Fähre verboten."

      "Wie schön, wenn jemand Polizei spielen kann!"

      Marthe versucht, den Dicken mit ihrem Blick wegzubeißen.

      "Schon gut, regen Sie sich nicht auf."

      Eine beruhigende Hand auf ihrer Schulter. Für einen Moment gehören sie zusammen. Im Protest gegen den selbst ernannten Ordnungshüter sind sie sich nah. Sie tauschen ein Lächeln. Dann fixiert Marthes Begleiter den Dicken mit seinem Blick und drückt die Zigarette an seiner Schuhsohle aus.

      "Recht so?"

      "Geht doch", sagt der Dicke und rührt sich nicht von der Stelle. Offensichtlich wartet er ab, was mit dem Stummel passiert. Der Mann im Kaschmirmantel zelebriert nun die Beseitigung der Kippe. Er lässt sie mit einer eleganten Drehung in der Packung verschwinden, so als handele es sich um einen Zaubertrick.

      "Zufrieden?"

      Der Dicke grummelt vor sich hin und geht weiter.

      "Idiot", schickt Marthe ihm hinterher.

      "Ich hab dann wieder geheiratet. Wir haben jetzt auch ein Kind. - Ein gesundes."

      Es klingt so, als wäre das noch nicht richtig bei ihm angekommen.

      Bläuliche Gebirgslinien staffeln sich über der Nebelwatte, die aus den Schweizer Tälern steigt. Das andere Ufer hat Konturen bekommen. Schon sind die Silhouetten einzelner Bäume auszumachen.

      "Wir sind gleich da", sagt Marthe.

      "Danke fürs Zuhören."

      "Kein Problem. Alles Gute."

      "Ihnen auch."

      Er wendet sich zur vorderen Treppe. Eine straffe Gestalt. Der knallrote Schal, den er locker über den Mantel geworfen hat, gibt ihm etwas Verwegenes. So einem hätte Marthe kein Schicksal zugetraut.

      Der Schiffsmotor verändert sein Geräusch. Der Bug dreht in Richtung Hafeneinfahrt. Plötzlich freut sich Marthe über ihre Freiheit. Sie freut sich auf die Autofahrt, die vor ihr liegt. Sie nimmt die hintere Treppe, will dem Fremden nicht noch einmal begegnen.

      *Literaturpreis JULL Ü70 Zürich

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