Sophies Spiegel. Tina Sabalat

Sophies Spiegel - Tina Sabalat


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anziehen. Morgen früh bringe ich dich zum Rat, dort wird man dir erklären, wie du uns helfen kannst, und du wirst Antworten auf all deine Fragen bekommen.«

      Das Angebot war verlockend, zumindest der erste Teil mit Essen, Bett und Bad, denn Sophie war müde, hungrig und seit Tagen ungeduscht. Dennoch, etwas mehr musste sie bereits heute wissen.

      »Ich soll euren Toten also das Jenseits zeigen. Weil ich aus einer Welt komme, in der es eines gibt.«

      Gin'Sah bejahte mit einem knappen Senken seines würdevollen Kopfes. »Du wirst als erster Mensch der anderen Welt in unserer sterben. Deine Seele wird den Weg zu eurem Jenseits suchen, unsere Toten werden ihr folgen. Und dort Eingang finden, dessen sind wir uns gewiss. Unsere Welten sind verknüpft, untrennbar, durch das Leben und somit auch durch den Tod: Wenn du unseren Toten den Weg weist, werden sie Frieden erfahren.«

      »Ich soll also ... sterben?«

      »Ja, aber nur vorübergehend.«

      Die Angst in Sophies Brust wurde härter, kälter, greifbarer.

      »Das habt ihr noch nie gemacht, oder?«, fragte sie, ihre Stimme war voller Zweifel. »Das ist ein Experiment.«

      »Ja.«

      »Und ... wie? Wie soll ich sterben?«

      »Du wirst den Schierlingsbecher trinken.«

      - 3 -

      Eine Ewigkeit verging, bis Sophie in dieser Nacht Ruhe fand. Der Schlaf wollte einfach nicht kommen, obwohl sie so schrecklich erschöpft und das Bett denkbar bequem war. Doch in ihrem Kopf wirbelte es die Gedanken umher wie auf einem kunterbunten Karussell: schrill, laut und so rasant, dass sie keinen richtig fassen konnte. Tote und Jenseits und Lan'The und Julian und La'Isa und Schierling und Sterben. Und die andere Welt natürlich.

      Als Sophie jetzt ins morgendliche Sonnenlicht blinzelte, fühlten ihre Augen sich klebrig und geschwollen an. Es brauchte einige Zeit, bis sie realisierte, wo sie war: in Gin'Sahs Haus, La'Isas Zimmer. Nicht weit entfernt von da, wo sie wohnte, und dennoch ganz woanders.

      Sophie lauschte auf die Geräusche in der Wohnung und auf der Straße. Leise Stimmen irgendwo, ein paar Vögel raschelten und tschilpten in den Büschen vor dem Fenster – ruhiger als Sophies Welt war diese hier auf jeden Fall. Sophie horchte auch in sich hinein und stellte fest, dass sie sich eigentlich gut fühlte, und das war nicht nur der Nacht in dem warmen Bett zuzuschreiben. Etwas Anderes, etwas Neues hatte die ewig gleichen Gedanken an Julian und diese schwere, schwarze Trauer ein Stück zur Seite geschubst, und die Erwartungen an den heutigen Tag kribbelten bereits jetzt wie emsige Ameisen durch ihre Adern. Zum Rat sollte sie gebracht werden, über die Toten wollte man mit ihr reden. Über die Toten? Über ihren eigenen Tod traf es wohl besser!

      Sophies Magen sackte ab, als habe ihn ein zu schneller Aufzug hinab in ein Stockwerk mit dem Namen 'Angst' befördert, tief unten im Keller, und ihre wohlige Schläfrigkeit war von einer Sekunde auf die andere verschwunden. Ja, sie hatte Angst vor dem, was sie heute erwartete, vor dem, was man mit ihr vorhatte. Doch die Angst war seltsam lebendig, seltsam aufputschend, und Sophie ahnte, dass das mit Julian zusammen hing. Oder besser gesagt mit seinem Spiegel, mit Lan'The. Gin'Sah hatte ihr versichert, dass sie ihn wiedersehen würde, als er sie gestern Nacht zu seinem Haus geleitet hatte – und Sophie freute sich darauf, auch wenn er nicht der war, nach dem sie sich wirklich sehnte.

      Sie schlug die Decke zurück, schlüpfte in Jeans und T-Shirt, hielt vergeblich nach ihren Stiefeln Ausschau und tapste schließlich auf bloßen Füßen in den Flur, noch immer lauschend. Stimmen kamen aus einem Raum rechts, Sophie identifizierte Gin'Sah und eine Frau, fremde Silben vermischten sich mit bekannten zu einer unverständlichen Sprache. Das vertraute englische 'th' war vorhanden, benutzt zusammen mit vollen Vokalen und Schnarrlauten – die Sprache ähnelte wohl am meisten dem Altenglisch, das Sophie aus der Schule kannte, dennoch verstand sie nichts. Das Gespräch wurde leise geführt, klang aber durchaus lebhaft: Gerade war die Frau an der Reihe, und ihr Monolog entbehrte nicht einer gewissen Schärfe.

      Der Raum besaß nur einen Vorhang vor dem ungewohnt runden Durchgang, Sophie klopfte gegen die Wand und trat ein, als die Stimmen verstummt waren.

      »Guten Morgen«, sagte sie, während ihre Augen das Zimmer musterten: Flache Bänke mit dicken Polstern darauf umstanden einen niedrigen Tisch aus dunklem Holz, an den weißen Wänden hingen handgewebte Teppiche. Es sah irgendwie orientalisch aus, fand Sophie, wie in einem Hotel, in dem sie mal in Tunesien gewesen war. Aber nicht fremd oder besonders anders als in ihrem Zuhause. Blau, Sonnengelb und Rot beherrschten die Stoffe – inmitten dieser kräftigen Farben nahm sich Gin'Sah mit seiner weißen Kutte und den hellen Haaren fast ungesund bleich aus.

      Er hatte mit einer braunhaarigen, zierlichen, ausgesprochen hübschen Frau seines Alters gesprochen, die Sophie von dem Familienbild in La'Isas Zimmer wiedererkannte. Und als er sich jetzt Sophie zuwandte, geschah dies mit einem Lächeln und einer Verbeugung, zu der er die Hände vor dem Bauch verschränkte, so dass die Fingerspitzen der aneinandergelegten Handfläche nach unten wiesen.

      »Sophie«, sagte er, »wie schön. Tritt ein, fühl dich wie zuhause. Dies ist La'Shi, meine Frau.«

      La'Shi trug ein dunkelblaues Kleid mit einem prachtvollen Silbergürtel darüber, zwei dicke Zöpfe fielen ihr meterlang und glänzend auf den Rücken. Und das Lächeln, mit dem sie sich Sophie zuwandte, gefror in knisternder Zeitlupe zu Eis, als ihre Augen auf deren Antlitz trafen. Sie taumelte einen Schritt nach hinten, Gin'Sah griff nach ihrem Arm, Besorgnis im Blick.

      Sie hat geglaubt, ihre Tochter wäre wieder da, dachte Sophie, als die Frau sich abwandte, die Hände vor das Gesicht schlug und Sophie damit an ihr eigenes Entsetzen erinnerte, als der totgeglaubte Julian vor ihr aufgetaucht war. Und an die Enttäuschung, als sie hatte begreifen müssen, dass dieser Junge nicht Julian war, dass dieser Junge sie weder kannte noch liebte.

      »Tut mir leid«, sagte Sophie.

      »Das musst es nicht«, erwiderte Gin'Sah schlicht, »es ist nicht deine Schuld.«

      Er strich seiner Frau über den Rücken, sie ließ sich auf die Polster sinken, als fehle ihr die Kraft zum Stehen. Dann fühlte Sophie sich kaum merklich am Ellbogen gefasst und aus dem Raum geführt.

      »Komm, begleite mich«, sagte Gin'Sah. »Du wirst hungrig sein. Aber erst einmal solltest du dich erfrischen.«

      Der sanfte Druck an ihrem Arm beförderte Sophie zurück in den Flur und vor eine hölzerne Tür.

      »Das Bad«, erklärte Gin'Sah überflüssigerweise, als Sophie zögerte: In ihrem Kopf formulierte sich eine Frage, die sie eigentlich schon gestern hätte stellen müssen, die aber über diese Sache mit Julian und den Toten vergessen worden war.

      »Darf ich dich was fragen?«, erkundigte sie sich trotzdem vorsichtig, Gin'Sah nickte ermutigend.

      »Gewiss. Ich will dir alles sagen, was du wissen möchtest.«

      »Wenn du der Vater von La'Isa bist und La'Shi ihre Mutter – warum erkenne ich niemanden von euch? Du bist meinem Vater in keinster Weise ähnlich.«

      »Euere Spiegel erscheinen hier, sobald ihr geboren werdet«, antwortete Gin'Sah. »Es gibt Orte, überall auf der Welt, die wir Mutterschreine nennen. Dort finden sich Schalen aus Stein, in denen die Kinder wie aus dem Nichts auftauchen. Nackte, schreiende Bündel, keine Minute alt.«

      Aus dem Wohnzimmer drang ein unterdrücktes Schluchzen. Gin'Sah sah zu dem Durchgang, schob Sophie dann bestimmt ins Badezimmer und schloss die Tür hinter ihnen.

      »Verzeih, La'Shi geht all das sehr zu Herzen«, sagte er entschuldigend, fuhr dann in seiner Erklärung fort. »Die Kinder, die in den Mutterschreinen erscheinen, werden adoptiert. Geburten gibt es bei uns nicht, das macht unsere Welt abhängig von eurer. Die Kinder werden in der Reihenfolge ihres Erscheinens vergeben, und so kann es sein, dass ich La'Isa meine von Herzen geliebte Tochter nenne, auch wenn sie dies in deiner Welt nicht ist.«

      Sophie nickte langsam. »Ich habe eine Schwester. In meiner Welt.


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