Zukünfte – Offen für Vielfalt. Stefan Bergheim
zu verstehen, sondern um an der eigenen Gegenrede zu feilen. Orte für Debatten sind Parlamente, Debattierclubs, Podiumsdiskussionen und abendliche Talkshows im Fernsehen. Die Rollen und der Ablauf sind klar, viel Neues kann so allerdings nicht entstehen. Zudem überzeugt man in einem solchen Format ohnehin nur selten sein Gegenüber. Vielleicht einige der Zuhörenden. Oder will man wenigstens eine Diskussion, in der man gemeinsam ein Thema untersucht und vielleicht zu einer Synthese der ursprünglichen Standpunkte kommt? Dann besteht mehr Offenheit dafür, vom anderen etwas zu lernen, dessen Argumente und Daten zumindest anzuerkennen und zu betrachten.
Isaacs geht es vor allem um die Möglichkeiten eines reflektiven und generativen Dialogs, in dem neue Ideen aus der kollektiven Intelligenz der Teilnehmenden entstehen. Er möchte den unterliegenden Ursachen, Regeln und Annahmen eines Themas nachgehen, um tieferliegende Fragen sichtbar zu machen. Isaacs bezieht sich auf den Physiker David Bohm. Dieser sieht im Dialog eine Möglichkeit, um gemeinsam zu denken und so „auf intelligente Weise tun zu können, was auch immer getan werden muss“.
Ein zentraler Untersuchungsgegenstand im Bohmschen Dialog sind Annahmen, also nicht bewiesene oder sogar nicht beweisbare Aussagen oder Zusammenhänge. Sie werden sichtbar gemacht und man geht den wirklichen oder vermeintlichen Zwängen dahinter nach. Diese Annahmen der verschiedenen Teilnehmenden werden nicht beurteilt, sondern in der Schwebe gehalten. Das Ziel ist es, im Fluss der Worte neuen Sinn sichtbar zu machen, wenn alle gemeinsam den Annahmen nachgehen.
So kann Neues entstehen, Innovation wird auf einer soliden Basis möglich. Für Isaacs sind die wichtigsten Teile einer Konversation diejenigen, die sich keiner der Beteiligten vorab hätte vorstellen können. Natürlich ist es schwer, genau zu bestimmen, welcher Teil nun wirklich völlig neu ist. Hinterher werden viele meinen, dass sie diesen Gedanken schon vor Jahren hatten oder sogar schon aufgeschrieben hatten.
Der Dialog in der Praxis
Bohm bevorzugt ein einfaches Format: Man setzt sich in einen Kreis, ohne Gesprächsleitung, ohne Tagesordnung, ohne Zielsetzung und schaut, was entstehen will. Das ist ein Experiment, also der Versuch etwas neu oder anders zu machen. Es ist ungewohnt, es kann sogar Angst machen. Anfangs bleibt die Gruppe vermutlich recht oberflächlich und spricht über das Format. Mit etwas Übung kann man dann nach und nach tiefer gehen.
So schön und wichtig der generative, reflexive Dialog auch klingt, in der Praxis wird er selten so gelebt. Zudem wird der Begriff des Dialogs mittlerweile oft falsch verwendet und damit beschädigt:
„Dialogpost“ ist Werbung, viele „Dialogforen“ sind vor allem Öffentlichkeitsarbeit. Das lässt sich leicht erkennen. Schwierig ist es, echten Dialog in Zukunftsprojekten einzusetzen. Zu den eingangs genannten Herausforderungen mangelnder Praxis und hierarchischer Strukturen kommt die grundlegende Anforderung der Ergebnisoffenheit von Dialogen hinzu. Nur so kann Neues entstehen. Diese Offenheit widerspricht dem weit verbreitetem Verfolgen von vorab feststehenden Eigeninteressen. Warum sollte ich mich in einen Dialog einbringen, wenn nicht sicher ist, dass meine Standpunkte, meine Produkte oder meine Politik dadurch mehr Sichtbarkeit erhalten? Offenheit und Eigeninteresse sind keine guten Freunde. In komplexen menschlichen Systemen gilt es Wege zu finden, um mit beidem umzugehen.
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Einen Dialog selbst anstoßen |
Bei Ihnen hat dieses Kapitel vermutlich einiges Nachdenken bewirkt. Vielleicht haben Sie bereits Ideen, wie und mit wem Sie den Dialog in Ihrem Umfeld lebendiger werden lassen können.
Hier ein paar Vorschläge von meiner Seite:
Suchen Sie mit den Argumenten dieses Kapitels das offene, hierarchiefreie Gespräch zu relevanten Themen am Arbeitsplatz oder in ihrer Organisation.
Regen Sie in ihrem Umfeld Veranstaltungen mit mehr Dialogelementen an, um die üblichen Vortragsformate und Podiumsdiskussionen zu ergänzen.
Organisieren Sie einen eigenen Salon im Format eines Dialogs, egal ob nach Bohm oder Isaacs oder wem auch immer.
Weisen Sie in Gesprächen mit Politikern auf die Bedeutung des fortlaufenden Dialogs hin, machen Sie Themen- und Formatvorschläge dafür.
Lesen Sie von David Bohm „Der Dialog – Das offene Gespräch am Ende der Diskussion“ oder von William Isaacs „Dialog als Kunst gemeinsam zu denken“.
2 Kraftvolle Fragen stellen
Früher hatte ich Antworten, heute stelle ich Fragen. Das beschreibt meinen Wandel vom Volkswirt, der um die Welt reist und den Investoren die Lage in Europa erklärt, zum Zukünfteforscher, der gemeinsam mit vielen anderen Menschen neue Ideen für die Zukunft erarbeitet.
Früher erstellte ich Prognosen darüber, wann zum Beispiel die Europäische Zentralbank die Zinsen anheben wird oder wie stark die Wirtschaft im nächsten Jahr wachsen wird. Heute frage ich, welche Aufgaben eine Zentralbank für eine höhere Lebensqualität übernehmen könnte und welche Messgrößen sinnvolles Wachstum erfassen können. Heute hinterfrage ich Prognostiker und Welterklärer: Warum tun sie so, als könnten sie die Zukunft vorhersehen? Stellen sie vielleicht nur ihre eigenen Werte als objektive Forschung dar? Natürlich brauchen wir Fachleute, die sich in ihrem Thema in der Gegenwart richtig gut auskennen, national wie international vernetzt sind und ihr Wissen verständlich erklären. Ihre Kenntnisse über Zahlen, Fakten und Zusammenhänge sind und bleiben wichtig.
Jeder Zukunftsprozess, jeder Dialog, jede Veranstaltung sollte eine gute Einstiegsfrage haben. Solche guten Fragen zu finden ist nicht schwer, wenn man ein paar Punkte beachtet und sich selbst folgende Fragen stellt, die auf Arbeiten von Eric Vogt, Juanita Brown und David Isaacs aufbauen:
1. RELEVANZ:
Ist die Frage wirklich relevant für die Personen, die ihr nachgehen wollen oder sollen? Gibt es einen Bezug zu dem, was diese Personen selbst machen und was ihnen wichtig ist? Bei der Gelegenheit kann man auch andersherum fragen: Für wen ist die Frage noch relevant, wer müsste noch im Raum sein, um ihr nachzugehen?
2. OFFENHEIT:
Ist die Antwort auf die Frage wirklich noch nicht bekannt? Suggestivfragen, in denen sich die erwünschte Antwort schon mehr oder weniger gut versteckt, bringen wenig neue Erkenntnisse.
3. WIRKUNG:
Welche Wirkung soll die Frage bei den Teilnehmenden auslösen? Welche Art von Konversationen, Nachdenken oder auch Gefühlen könnte sie bewirken? Natürlich sollte die Frage auch nicht überfordern.
4. NEUES:
Wenn die gleiche Frage immer wieder diskutiert wird, dann ist etwas schiefgelaufen. Man dreht sich im Kreis und sollte nach einer anderen Frage suchen.
5. ANSTOSS:
Kann die Frage den Anstoß zur Suche nach noch besseren, noch relevanteren Fragen geben? Die Einstiegsfrage sollte nicht in Stein gemeißelt sein. Wenn sich im Laufe der Diskussion eine bessere Frage herauskristallisiert – und von den Teilnehmenden als solche akzeptiert wird – dann sollte man dieser Frage nachgehen.
6. ERGEBNIS:
Hat die Frage das Potential zu wirklich relevanten Antworten zu führen, die uns tatsächlich weiterbringen? Oder besteht die Sorge, dass nur Allgemeinplätze entstehen oder Randthemen bespielt werden?
Drei Dimensionen guter Fragen