CYTO-X. Christian Schuetz
bei der Sprachschule angemeldet.
Sie sehen ja in Ihren Unterlagen, dass ich in Schweden aufgewachsen bin. Ich habe innerhalb von zwei Jahren Norwegisch, Dänisch und Deutsch gelernt. Seither habe ich noch Englisch, Spanisch, Russisch und Mandarin nachgelegt, außerdem ein wenig Finnisch, Portugiesisch, Italienisch, Französisch und Afrikaans.“
Erik zwang sich dazu, eine Redepause einzulegen. Ihm war bewusst, dass man seine Ausführungen als Prahlerei missverstehen konnte, aber er hätte seine Talente gern gegen ein normales Leben eingetauscht.
„Und wann begannen die Kopfschmerzen?“, fragte Emma, als er eine kurze Redepause einlegte.
„Eigentlich immer in den Ferien“, sagte er nachdenklich. „Aber Sie wollen sicher das Alter wissen? Also, aufgefallen ist es mir mit zwölf. Ich konnte es eigentlich immer nur dadurch bekämpfen, dass ich mir was zum Lernen suchte oder einfach Bücher las. Oder besser gesagt: Verschlang! Als ich das erste Mal den Herr der Ringe las, brauchte ich dafür nur einen einzigen Tag, na ja, und die folgende Nacht.
Meine Mutter war fuchsteufelswild, weil ich total übernächtigt war und hat mir alle Bücher und Schulsachen weggenommen. Ich sollte endlich mal die Ferien genießen und sie meinte, es wäre kein Wunder, dass ich dauernd Kopfweh hätte. Nach zwei Tagen war es so schlimm, dass ich heimlich mit dem Rad in die Stadt zur Bücherei gefahren bin. Dann ging es wieder. Hab mich auf dem Heimweg mit Dreck beschmiert, damit meine Mutter keinen Verdacht schöpfte.“
Erik lachte, sein Blick aber wirkte traurig und nachdenklich und verriet Emma, dass Mutter Zsolt wohl nicht mehr am Leben war. In seinen Augen war der Verlust deutlich abzulesen.
„Was machte Ihr Vater beruflich? Hier steht nur, dass er in Ungarn geboren wurde und später nach Skandinavien auswanderte oder floh?“
„Ich weiß von ihm kaum etwas. Aber er war kein Genie, wenn Sie darauf hinaus wollen. Meine Mutter sagte oft, er wäre Arzt gewesen, aber ich glaube eher, er war Sanitäter bei der Armee. War jedenfalls der einzige Hunyar Zsolt, den ich bei meinen Recherchen später gefunden habe. Allerdings kann es sein, dass er den Namen ändern musste.“ Er wollte nun aber nicht weiter der Erzähler sein. „Jetzt sind Sie aber dran! Wie kommen Sie darauf? Warum die Vermutung? Sie denken, dass es vielleicht kein Tumor ist?“
Es dauerte eine Weile, bis sie mit ihrer Theorie herausrückte: „Mir war aufgefallen, dass dieses Tumorgewebe, wenn man überhaupt von Tumor sprechen darf, eine selten symmetrische Form aufweist. Eine Ausrichtung als wolle ...“, sie setzte kurz ab, so als schämte sie sich für den leicht fantastischen Ansatz, den sie mit keiner medizinischen Lehrmeinung bekräftigen konnte. „Als wolle ihr Gehirn eine zusätzliche Verbindung zwischen der linken und der rechten Hälfte herstellen. Vielleicht mit Hilfe eines zusätzlichen Gehirnlappens?“
Erik zog lautstark Luft durch die Lippen ein, dass es fast pfiff. „Das ist starker Tobak! Sie sprechen hier von einer Mutation. Bin ich ein Freak? Ein Mutant?“ Emma wedelte beschwichtigend mit den Händen.
„Herr Zsolt, soweit sind wir doch noch gar nicht. Ich habe eine Theorie, Sie haben Kopfschmerzen und ein seltsames Gebilde im Kopf. Das ist der Stand der Dinge. Ich meine, schauen wir uns doch mal die Optionen an, dann überlegen wir, wie wir das vielleicht nachweisen können. Vielleicht eine modifizierte Kernspintomografie? Und dann können wir der Sache immer noch einen Namen geben.“
Aber Erik war kein Mensch, bei dem es langsam gehen durfte. Genau das war doch seine Begabung, etwas schneller analysieren zu können als andere. Machte das Sinn? Sein Hirn ratterte bereits, noch während seine Ärztin dabei war, ihn zu beruhigen, was gar nicht nötig war.
Er empfand die Bezeichnung Mutant nicht als Beleidigung. Na gut, Krallen aus Adamantium waren sicher schicker als glatzköpfig im Rollstuhl zu sitzen, aber es würde ihn nicht stören, der erste Mutant der Welt zu sein. Oh Gott, hieß Magneto nicht auch Erik mit bürgerlichem Namen? Aber darum ging es jetzt auch nicht. Fakt war, er hatte endlich jemanden gefunden, der den Zusammenhang zwischen seiner Gabe und den Schmerzen nicht nur akzeptierte, sondern auch selbst zur Diskussion gestellt hatte.
„Warten Sie, Frau Doktor! Bei den Gehirnhälften, da sitzt doch rechts die Logik und links die Kreativität oder so?“
„Na ja, eigentlich ist es umgekehrt, aber wir nehmen es anders wahr, weil immer die gegenüberliegende Gehirnhälfte die Motorik der anderen Seite steuert, aber im Prinzip ist der Ansatz korrekt.“
„Motorik! Ich hatte die Motorik-Störungen mit etwa neun bis elf. Das war eine Qual damals beim Sport! Fußball oder alles mit Körperkoordination, furchtbar! Bin über die eigenen Beine gestolpert. Ich bin heute noch kein Held, wenn es um Handwerk oder Sport geht.“
„Ja, das könnte sicher dadurch verursacht worden sein, aber da mir keine Vergleichsuntersuchungen von damals vorliegen, ist das nur eine Mutmaßung.“
Erik sah, dass sie sich mit der rechten Hand über den linken Arm strich. Er saß keinen Meter von ihr entfernt und konnte die Gänsehaut dort deutlich erkennen. Die Logik beruhigt also die Kreativität, dachte er schmunzelnd. „Ich bin froh, dass ich den Termin nicht abgesagt habe! Wenn Sie mir jetzt noch verraten, wie wir meine Kopfschmerzen behandeln können, dann spendiere ich dem Laden hier eine Renovierung!“
Natürlich war eine Therapie zu diesem Zeitpunkt nur als Idee vorhanden, da seine Ärztin noch nicht einmal wusste, ob ihre Theorie mit dem vielleicht zusätzlich entstehenden Gehirnlappen, der beide Gehirnhälften miteinander verbinden sollte, nach den weiteren Kernspins noch zu halten wäre, aber Erik war definitiv ein ungeduldiger Patient.
Seit der Entwicklung seiner Fähigkeiten gab es für ihn kein Langsam mehr. Er wollte immer alles sofort und lieber gestern als heute ausprobieren. Das hatte ihn so erfolgreich gemacht. Vor allem beruflich, wenn man seine Betätigungen als Beruf bezeichnen wollte.
Erst zwei Tage zuvor hatte er es geschafft, einen Patentantrag einer Schattenfirma der CIA zeitlich so zu verzögern, dass ein anderes Mitglied seiner „Firma“ das Patent vorher anmelden konnte. Nun hatten sie die Rechte an einem alternativen Herstellungsverfahren für Treibstoffe erworben.
Die Funktionalität des Verfahrens war höchst zweifelhaft, aber es war auch nie dafür gedacht, den Treibstoffmarkt zu revolutionieren. Die CIA hätte das Patent nur an die Araber weiterverkauft und dafür irgendwelche Zugeständnisse im „Kampf gegen den Terror“ eingefordert. Nun konnten Erik und seine Kollegen überlegen, ob sie den Zwischengewinn einstreichen würden oder ob sie jemanden fanden, der aus dem mangelhaften Verfahren ein vielleicht sinnvolles entwickeln konnte.
Aber das war nicht mehr sein Job. Erik hatte nun Zeit für seine Gesundheit, da er sich eine Auszeit von drei Monaten erbeten hatte. Würde das nicht reichen, wäre eine weitere Verlängerung für ihn kein Problem. Sie würden ihn vermissen, weil seine analytischen Fähigkeiten schon recht häufig gebraucht wurden, aber niemand würde Druck auf ihn ausüben. Und falls er eines Tages beschließen würde, ganz auszusteigen, dann wäre auch das seine Entscheidung. Sie waren kein Verbrechersyndikat, sondern eine Gruppe von Idealisten. Bestohlen wurden nur die, die es nicht anders verdienten.
„Herr Zsolt?“
Erik war ein wenig abgedriftet. Seine neue Ärztin blickte ihn fragend an. Er hatte noch vernommen, dass sie versucht hatte, seine Erwartungen etwas in Grenzen zu halten, und bei solchen Standardsprüchen schaltete er gern mal ab. Aber sie hatte gerade etwas von einer Injektion gesagt, daran konnte er sich plötzlich erinnern. „Ich habe an diese Injektion gedacht. Können Sie mir nochmal erklären, wie Sie da in meinen Kopf hinein wollen?“
„Ich war doch noch gar nicht soweit. Aber wenn Sie das beschäftigt, dann kann ich Sie beruhigen. Das ist mittlerweile ein gängiges Verfahren. Die Kernspintomografie liefert uns ein dreidimensionales Bild von ihrem Gehirn. Ihr Kopf wird fixiert und der Computer berechnet genau, wie und wo die Nadel eingeführt wird, um sie direkt an die Stelle zu führen, an der wir die Wucherung behandeln wollen. Manuell kann man noch korrigieren, aber im Normalfall trifft man die Stelle auf den Millimeter genau. Meist führt der Weg durch die Nase, aber auch der Augenwinkel am Tränenkanal bietet sich durchaus dafür an. Am Sehnerv entlang