Der letzte Weg des Dr. Dembski. Benedict Dana
fielen ihm auf einmal all die Demütigungen und großmäuligen Überheblichkeiten seiner Kollegen ein, die er zu erdulden gehabt hatte. Die Art und Weise, in der man ihn in die Rolle eines schrägen und neurotischen Genies gedrängt hatte, hatten einen tiefen Ärger in ihm angestaut, der sich nun vielleicht ein Ventil schaffen konnte. Einem Arbeitgeber, der ihn diesem entwürdigenden Arbeitsumfeld ausgesetzt hatte, fühlte er sich nicht zur Loyalität verpfichtet, und doch schätzte er Leo Abrahams persönlich sehr, dem eine geheime Kopie der Daten ja vielleicht eines Tages sogar nützlich sein könnte, wenn diese aus irgendeinem Grund plötzlich benötigt werden würde. Nicht zuletzt kam auch folgendem Gedanken bei seinem Entschluss einige Bedeutung zu:
Wenn Tosh O’Brian und Leo Abrahams dabei versagen würden, das brisante Material in angemessener Weise an die Öffentlichkeit zu bringen, könnte ihm selber eine herausragende Rolle zufallen, indem er tief in das politische Schicksal seines Landes eingriff und die ehrenvolle Aufgabe übernahm, die ganze Welt über ein paar bedeutende Geheimnisse aufzuklären…
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Als Lydia im Labor eintraf, fand sie Krueger nicht in dem Zustand vor, den sie nach dem Telefongespräch erwartet hatte. Seine Laune schien sich plötzlich stark gebessert zu haben, sodass sie froh war, nicht mehr in die Rolle der Psychologin schlüpfen zu müssen. Nachdem sie ihm etwas zu essen vorgesetzt und ein wenig aufgeräumt hatte, sah sie keinen Grund mehr länger zu bleiben und machte sich auf den Weg zum Independent Internet-Tower, in dem am Abend ein Festbankett anlässlich des Verkaufs der Internetsparte stattfinden sollte.
Die Bedingungen für die letzte feierliche Unterschrift, durch die dieses Geschäft unmittelbar vor dem Bankett endgültig an LOGO fallen sollte, waren bereits einen Tag, nachdem Dembski mit Abrahams im Harriman Countryclubs zusammengekommen war, erfolgreich zu Ende verhandelt worden, wobei tatsächlich der allseits prophezeite Preis von 7 Milliarden US-Dollar fixiert worden war. Von den Absprachen und heißen Tipps hinter den Kulissen war offiziell natürlich nichts bekannt geworden und so hatte Abrahams nur in kleiner Runde abends in der Bar lobend das Glas auf seinen „Glücksbringer“ Dembski erhoben, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits mit Lydia Abramovitch und den beiden Juristen in einer Limousine auf dem Rückweg nach New York befunden hatte.
Als Lydia am frühen Abend auf der Strecke zwischen Labor und Tower mit ihrem Sportwagen auf der Fifth Avenue im Stau stecken blieb, ging sie ein weiteres Mal im Kopf die Aufgaben durch, die man ihr für den reibungslosen Ablauf des großen Ereignisses aufgetragen hatte. Einige Personen auf der langen und illustren Gästeliste erforderten besondere Sicherheitsmaßnahmen, was sehr viel Arbeit bedeutete. Eric Young beispielsweise, der Vorstandsvorsitzende von LOGO, der sich derzeit auf einer Wirtschaftskonferenz in Boston aufhielt, würde mit dem Helikopter anreisen, weshalb einige Sicherheitsleute für den Heliport abgestellt werden mussten. Sie selber sollte zusammen mit Akuma He, Walter Silverman und anderen Kollegen den Festsaal unter Beobachtung halten, damit es nicht zu irgendwelchen unvorhergesehenen Zwischenfällen kam. Im Grunde genommen waren die Gäste dieses Banketts Feinde, weswegen die ganze Veranstaltung von Anfang bis Ende von dem kaum zu verhehlenden Sentiment einer heuchlerischen Freundlichkeit durchzogen sein würde, unter deren Oberfläche heiß der Hass brodelte. Wenn sich an diesem Abend Leo Abrahams und Eric Young zu dem endgültigen Abschluss eines 7-Milliarden-Deals lächelnd die Hände reichen würden, hätte man genauso gut vergiftete Pfeile aufeinander abschießen können, was natürlich niemandem von den geladenen Damen und Herren auf diese offene Art angenehm gewesen wäre.
Nachdem Lydia die Tiefgarage des Towers erreicht hatte, fuhr sie mit dem schnellsten Aufzug in die 98. Etage hinauf, wo sie Luke Sawyer, dem Chef der Sicherheitsabteilung, treffen wollte, um mit ihm noch einmal die Aufgaben für den Abend durchzugehen. Als sie ihn jedoch nicht am verabredeten Ort vorfand und auf dem Korridor zufällig Tosh O’Brian begegnete, nahm sie die Gelegenheit wahr, diesen auf ein paar eklatante Sicherheitsmängel hinzuweisen.
„Ich fühle mich verpflichtet, Sie über zwei außergewöhnliche Risiken zu informieren, die das Firmenwohl bedrohen, Sir. Die Verantwortung dafür liegt danach ganz und gar bei Ihnen. Ich möchte mir den Vorwurf ersparen, ich hätte sie Ihnen nicht mitgeteilt.“
Tosh und Lydia kannten sich bereits seit Jahren, weshalb sie sich nicht mehr allzu formell begegnen mussten und das Gespräch ohne großes Getue zwischen Tür und Angel führen konnten.
„Nur zu, Lydia. Ich schätze es, wie Sie sich engagieren und nicht nur Ihr Gehalt kassieren und alles andere einfach unter den Teppich kehren.“
„Nun, da wäre zunächst das Thema Oswald Krueger. Er ist ein wirklich vorzüglicher Experte, aber das Innenleben von Genies ist schwer zu ergründen und sollte in wichtigen Fällen unter einer besonderen Beobachtung stehen. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass er bald für LOGO arbeitet und sein geheimes Wissen dorthin mit sich nimmt. Halten Sie es für klug, einen solchen Mann allein in dem Labor zu lassen, vor allem wenn man bedenkt, was mit Dr. Dembski im Maison Rouge geschehen ist? Die Sicherheitslage in dem Labor ist mangelhaft, außer einem Eintrittscode und einer verstärkten Tür gibt es keine besonderen Vorkehrungen. Meiner Ansicht nach müssten dort bis zur Abholung des Rechners mindestens zwei Leute Tag und Nacht Wache stehen.“
Sie hatte ihre Beschwerde vollkommen ruhig vorgebracht, aber tief im Inneren erregte sie diese himmelschreiende Unprofessionalität und ging ihrem Perfektionsstreben stark gegen den Strich.
„Ich hätte gedacht, solche Fragen liegen in Ihrem Verantwortungsbereich. Beschweren Sie sich bei mir über Ihr eigenes Versagen?“, entgegnete Tosh ein wenig zu schroff, um nicht sofort ihren scharfen Protest hervorzurufen.
„Vergessen Sie nicht, dass ich offiziell nur freie Mitarbeiterin bin. Manchmal habe ich das Gefühl, in Ihrer Sicherheitsabteilung gibt es nur überbezahlte und unfähige Leute, die sich nicht einmal über ihre Zuständigkeiten einig sind!“
„Ich denke, Luke Sawyer und Walter Silverman müssten in der Sache verantwortlich sein. Ich werden den Beiden gleich morgen früh mal ein bisschen auf die Finger klopfen.“
„Womit wir gleich bei dem wichtigsten Thema wären! Es lautet nämlich Walter Silverman“, enthüllte sie mit ernstem Blick, da sie eine schwerwiegende Anschuldigung vorzubringen hatte.
„Silverman? Inwiefern? Sie wissen ja, ich mag den Kerl nicht.“
„Ich schwärze normalerweise niemals einen Kollegen an, aber in diesem Fall springen bei mir alle Alarmglocken an, weil uns die Angelegenheit vielleicht eines Tages alle in den Abgrund reißen kann! Mir sind inzwischen genügend Gerüchte über Silvermans Unter-der-Hand-Geschäfte zu Ohren gekommen, um aus ihnen mit ausreichender Sicherheit auf entsprechende Aktivitäten zu schließen.“
Tosh zog erstaunt die Augenbrauen hoch, spitzte die Lippen und fuhr sich nervös durch seine dünnen, grauschwarzen Haare. Dann bot er ihr neben sich den Platz auf einem der modernen Ledersofas an, die in dem breiten, mit Marmorfliesen ausgelegten Gang für Besucher bereit standen.
„Welche konkreten Belege haben Sie dafür? Ich selbst hatte bei ihm schon oft ein ungutes Gefühl, aber mehr war es bisher nicht.“
„Jeder hat seine Quellen, von denen man die wichtigsten meistens verschweigen muss. Über einen entscheidenden Vorfall während unseres letzten Aufenthaltes im Harriman Countryclub kann ich jedoch offen berichten:
Ein gewisser Enrico Gonzalez, der bei LOGO im Controlling sitzt, kam aufgrund einer etwas seltsamen Wette mit der Bitte um ein Date zu mir, die ich ihm im Gegenzug für einen wichtigen Tipp erfüllt habe. Eigentlich ging es bei allem nur um einen Scherz, doch dann erfahre ich, Gonzalez’ Chef Oliver Hill hätte mehr als nur einmal fünfstellige Summen dafür bezahlt, um von Silverman wichtige Informationen über Abrahams Geschäftspläne zu erhalten. Dies war wohl auch letzten Montag der Fall. Ich nehme natürlich an, das wird nur die Spitze des Eisbergs sein. Allein dies wäre schon schlimm genug, aber wenn ich nun noch an Dembskis gehackte NSA-Dateien denke, wird mir schwindelig. Wie könnten wir uns jemals sicher sein, dass Silverman nicht auch Dembski – und damit womöglich auch uns – eines Tages verraten und verkaufen wird?“
Lydia unterbrach sich, da eine Gruppe von Angestellten an ihnen vorbeikam, die auf dem Weg zu dem