Jenseits der Augenlider. Marc Dorpema

Jenseits der Augenlider - Marc Dorpema


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seine Schritte. Bald hatte er seinen Lehrer erreicht und umarmte ihn kräftig.

      „Ich grüße dich, Kandra. Die Verspätung tut mir leid.“

      „Lannus. Schön dich zu sehen. Mach dir keine Sorgen, du musst dich vorerst noch einleben, ich verstehe das.“

      Obgleich Lannus dem Zirkel erst seit einer Woche angehörte, hatte er schon eine Vielzahl enger Freunde kennengelernt. Kandra war einer von ihnen. Vermutlich eine Masche dieses Zirkels, dachte Lannus etwas bitter bei sich. Doch was konnte es schon Schaden, sich zumindest oberflächliche Kameraden anzueignen.

      Gemeinsam schritten sie durch das steinerne Tor in die Arena, in welcher sich bereits eine beachtliche Menge an Anfängern gegenseitig möglichst unauffällig bestahlen, oder Schwertkämpfe austrugen, und setzten sich auf eine Bank am Rand. Manche der Diebe schlossen sich zusammen und nutzten geschickte Ablenkmanöver, während der andere Teil sein Glück alleine versuchte. So trainierten die Zirkelmitglieder ihr prekäres Handwerk. Man konnte selbstverständlich auch anderen Aktivitäten, beispielsweise Schwimmen oder Kraftübungen nachgehen, doch Stehlen und Kämpfen dominierten die meisten Tage.

      „Du schlägst dich außerordentlich gut, Lannus. Es ist durchaus selten, dass Neuankömmlinge über solch ausgeprägte Fähigkeiten verfügen. Ich bin mir sicher, dass du hier ein passendes zu Hause entdeckt hast.“ Kandra befand sich in einer lockeren Stimmung und sprach fröhlich und offen. Ein Attribut das Lannus behagte. Er konnte die Riege des hochnäsigen Scheinadels und Adels nicht ausstehen; mit ihren Verschleierungen und undeutlichen Äußerungen, mit ihren Fallen. In den Reihen des Zirkels herrschte trotz der freundschaftlichen Stimmung eine gewisse Disziplin, mit der sich jedes Mitglied zurechtfand. Zwar war diese nicht vergleichbar mit der des königlichen Heeres, dennoch befolgten ausnahmslos alle den Befehlen und Regeln ihrer Höheren. Die Freundlichkeit der Führung war ein beachtlicher psychologischer Kniff, welchen Lannus enorm respektierte und für beeindruckend weise hielt. Deswegen benahm er sich vorbildlich und bestätigte, teils bewusst, teils unbewusst, die Effektivität dieser Art der Führung. Wenn er genauer darüber nachdachte, war diese vermutlich auch der Grund dafür, dass sich eine so hohe Zahl an respektlosen Dieben mit dem System zurechtfand.

      „Lannus.“ schreckte Kandra ihn aus seinen tiefsinnigen Gedanken. „Sieh nur Lannus, dort drüben. Gegen ihn kannst du dich beweisen.“ Sein Lehrer zeigte auf einen Hünen, der sich trotz seiner enormen Größe pfeilschnell bewegte.

      Sein kahlgeschorener Skalp glänzte in der mittäglichen Sonne, während er ihm ebenfalls unheimliche, geisterhafte Züge verlieh. Sein Blick war leblos. Wulstige Lippen verunstalteten die verstörende Grimasse. Unglaublich breite Schultern und riesige Arme machten ihn zu einem wahren Monster. Lannus schüttelte ungläubig den Kopf.

      „Mit so einem Hünen kann ich es nicht aufnehmen. Dafür bin ich noch nicht bereit.“ wehrte Lannus schwach ab.

      „Nein, Lannus. Ich weiß, dass du ihn bezwingen kannst. Glaub an dich.“ antwortete Kandra scharf. Lannus zögerte, doch Kandra wusste bereits, dass er ihn überzeugt hatte. Nur noch einen Augenblick, dann würde er sagen:

      „Du hast Recht, Kandra. Ich werde ihn besiegen.“ Lannus‘ Stimme festigte sich mit Überzeugung, während er sich mit seinen Händen von der Bank schob.

      Kandra blickte Lannus, welcher bereits beinahe vor seinem Gegner stand, bedächtig hinterher.

      All seinen Mut zusammennehmend, baute das junge Mitglied sich vor dem Hünen auf. Bellendes Gelächter, welches erstaunliche Ähnlichkeiten mit einem nahen Sommergewitter aufwies, erklang, als Lannus‘ Gegner sein Schwert zog. Kandra lächelte. Auch Lannus hatte seine Klinge gezogen und stellte sich mit leicht gespreizten Beinen vor seinen überragenden Widersacher in die Kampfposition. Bei diesem Anblick zweifelte Kandra daran, dass er das Richtige getan hatte. Der neue Mitstreiter des Zirkels war zwei Köpfe kürzer als sein Gegenüber.

      Lannus setzte zum ersten Schlag an, welcher mit Leichtigkeit pariert wurde. Für einen flüchtigen Augenblick standen sie sich gegenüber und duellierten sich mit Blicken. Plötzlich, wie aus dem Nichts, ein pfeilschneller Hieb des Hünen. Doch Lannus musste diese Attacke vorhergesehen haben, denn auch er erlitt keinen Treffer, sondern wich elegant aus. Nun prasselte ein Hagel aus raschen, präzisen Hieben auf Lannus ein. Die meisten anderen Gegner hätten sich bereits ergeben, doch das neueste Mitglied des Zirkels hielt sich erstaunlich gut. Das musste Kandra sich aus der Nähe ansehen. Nun ging Lannus zum Angriff über. Seine Attacken waren pfeilschnell und schnellten aus solch unvorstellbaren Winkeln hervor, dass seinem Lehrer der Mund aufklappte. Kandra befand sich nun direkt an der Grenze des Rings. Der Riese verzog seine Grimasse in sichtlicher Frustration und stellte sich verzweifelt, mit den monströsen Armen vor seinem Körper, direkt an den Rand des Kreises, welcher ihre behelfsmäßige Arena abgrenzte.

      Der Kampf war entschieden.

      „Es reicht.“ rief der Offizier seinem Schützling zu. Lannus drehte seinen Kopf und starrte ihn regungslos an, bis seine Mundwinkel sich zu einem überheblichen, beinahe fanatischen Grinsen erhöhten. In diesem Augenblick wurde Kandra bewusst, dass er einen gravierenden Fehler begangen hatte.

      XV

      Dieser verdammte Beutel. Garandor konnte sich nicht vorstellen, mit so einem Ungeheuer am Rücken – und zusätzlich in eine massive Rüstung gehüllt und mit einem gigantischen Streithammer bewaffnet – bis ans Ende der Insel spazieren zu müssen. Der Zwerg packte hastig die letzten, unentbehrlichen Sachen für seinen langen Marsch zusammen. Er hatte das Äußere der Festung erst an wenigen Gelegenheiten mit eigenen Augen gesehen und selbst dann hatte er sich nie aus der umliegenden Stadt entfernt.

      Nachdem der Zwerg jegliche Utensilien und Rationen in seinem Beutel verstaut hatte, schoss Balira ihm durch den Kopf, doch er schüttelte den Gedanken, sie zu besuchen, wie frisches Laub aus seinem Geist.

      Widerwillig verließ Garandor seine Kammer und schlenderte – unterbrochen von einigen Pausen, verursacht durch winzige Details in den verzierten Wänden, welche ihm noch nie zuvor aufgefallen waren und ihn mit ihren geschlängelten Linien an den Boden wurzeln wollten – zum Haupttor. Er stolperte einige Male ungeschickt aufgrund des enormen Gewichts auf seinem Rücken und fluchte nach jedem gerettetem Fall zischend auf Zwergisch.

      Plötzlich spürte er wie sich eine Hand um seine Schulter schloss und ihn sachte umdrehte. Sie sahen sich mehrere Monde lang an. Beide wussten, was das Gegenüber aussprechen wollte. Schließlich überwand Balira sich und schloss Garandor in ihre Arme. Der Duft von ihm unbekannten, zermahlten Blüten und Mineralien kroch durch die breite Nase in seine Erinnerungen und nistete sich gegen Garandors Willen dort ein.

      „Ich liebe dich Garandor. Versprich mir, dass du wiederkehrst.“ Stille Tränen erstickten ihre sanfte Stimme.

      „Ich – Ich liebe dich auch, Balira. Ich werde zurückkehren. Das verspreche ich dir.“ doch seine Augen straften ihn einen Lügner. Die Zwergin wusste, dass er diese Reise mit einer hohen Wahrscheinlichkeit nicht überstehen würde.

      „Ich muss jetzt gehen.“ flüsterte Garandor hölzern. Balira nickte und löste sich zögernd. Ihre Blicke trafen sich, als der Auserwählte sich umdrehte, davonstampfte. Mit jedem Schritt klirrte seine Rüstung metallisch.

      Am Tor angekommen, stellte er fest, dass seine Gefährten bereits zum Aufbruch bereit waren. Dante war sichtlich aufgeregt, während der Elfenfürst vollkommen gelassen wirkte, als er auf die verabschiedenden Worte wartete.

      „Garandor. Du hast zu uns gefunden. Wir warten bloß auf dich, mein Freund.“ Der König sprach mit einem Kern aus tiefster Sorge, welcher jedoch – von einem Schleier aus Pathos verdeckt – nicht zum Vorschein kam. Er umarmte Garandor, was dieser als eine enorme Ehre empfand.

      „Ich werde dich nicht enttäuschen, mein König.“ Zaghafte Stimme, Zittern.

      „Du kannst mich nicht enttäuschen, Garandor.“ Die Fassade des Pathos bröckelte leicht. Die Sorge kam zum Vorschein. Nach einem langen Blick klopfte Torabur dem jungen Zwerg im Wegdrehen auf die Schulter.

      Das


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