Die Hexenkönigin. Anna Rawe

Die Hexenkönigin - Anna Rawe


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      "Ich bin diejenige, die sie unterrichtet hat", eröffnete sie dann. "Morrigan war meine Novizin."

      Ich musterte sie – fassungslos – während nur eine einzige Frage auf meinen Lippen lag. "Was ist passiert?"

      "Ich weiß es nicht", murmelte sie, während ihr Blick in den Tiefen des Tees versank. "Sie war ein so außergewöhnliches Mädchen. Doch ich hätte wissen sollen, dass all diese Leidenschaft, all diese Energie, mit der sie die Dinge anging, früher oder später zu unserem Verhängnis werden würde."

      Es kostete mich große Vorstellungskraft, Morrigan nicht als die furchteinflößende Königin zu sehen, als die ich sie kennengelernt hatte. Wie sie als junges Mädchen gewesen war, stand auf einem vollkommen anderen Blatt. Und bisher war mir nicht einmal der Gedanke gekommen, dass es eine Geschichte sein könnte, die alles erklärte. Eine Geschichte, die offenbarte, wer Morrigan wirklich gewesen war, bevor sie zur bösen Königin wurde.

      "Sie war ein Straßenkind", fuhr Gladys in diesem Moment fort. "Sie hatte für ihr Alter eine unglaubliche Ausstrahlung. Ich wusste sofort, dass sie eine Hexe ist. Allerdings hatten es die Menschen bis dahin nicht gut mit ihr gemeint."

      Gladys hob den Blick und sah mich an. In ihrer Miene las ich Bedauern. "Wir Hexen waren damals zwar noch keine Gejagten, doch unser Verhältnis zu den Menschen war schon immer schwierig. Sie achteten und respektierten uns, ersuchten unsere Hilfe bei Krankheiten und Seuchen – und doch fürchteten sie unsere Macht."

      Gladys seufzte. "Ich habe Morrigan damals mit zu mir genommen. Wie sich herausstellte, war ihr Talent einzigartig. Sie hatte seit ihrem vierten Lebensjahr Visionen empfangen und verstand es, die Komponenten einzelner Tränke nach Augenmaß zusammenzusetzen und blind herauszuselektieren. Ich war diejenige, die die Meister überzeugte, sie mit acht Jahren als jüngstes Mitglied in den Zirkel aufzunehmen."

      Gladys unterbrach sich und ich sah, wie ihre Augen glänzten. Wie lange hatte sie diese Geschichte für sich behalten? Und wie tief musste ihre Verbindung zu Morrigan damals gegangen sein?

      "Sie war wie eine Tochter für mich. Ich war so stolz, als sie ihre Grundausbildung beendete. Sie war eine der begabtesten Novizinnen des Zirkels. Ihre Talente beschränkten sich nicht nur auf einen Bereich der Magie, wie es üblich ist. Morrigan war unglaublich geschickt in der Herstellung von Tränken, kannte fast jedes Gift und das Heilmittel dagegen und wer einmal zugesehen hatte, wie sie Elementarmagie einsetzte ..."

      Gladys schüttelte den Kopf. "Jedenfalls haben die Meister nach langen Verhandlungen beschlossen, sie in sieben der neun Gebiete weiterstudieren zu lassen. Die Magie des Schattens und des Lichts hatte man aus dieser Erlaubnis ausgeschlossen, um die Stellung Morrigans im Zirkel nicht zu gefährden. Denn obwohl alle Meister darin übereinstimmten, dass ein Talent wie ihres gefördert werden musste, spürten sie auch die Furcht der anderen Hexen."

      "Furcht." Ich zog die Brauen zusammen. Dies war eine Seite Morrigans, die ich bereits kannte. Doch ich hatte nicht erwartet, sie in Gladys' Erzählung wiederzufinden.

      "Morrigan war ehrgeizig", eröffnete sie. "Lange dachte ich, es ging ihr nur darum, dazuzugehören. Endlich Akzeptanz und sogar Respekt für die Fähigkeiten zu erhalten, für die sie so lang verachtet wurde."

      Gladys seufzte. "Ich war blauäugig. Ich sah nur, was ich sehen wollte – ein Mädchen, das nach Liebe und Anerkennung strebte. Deren einzigartige Gabe Wunder vollbringen konnte. Ich wollte nicht glauben, dass Morrigan diese Gabe jemals missbrauchen würde, um eigennützige Ziele zu verfolgen. Ich habe mich regelrecht gegen die Vorstellung gestemmt. Und jetzt sieh uns an."

      Sie hob die Hände in einer Geste, die ihre Hilflosigkeit ausdrückte. "Ich hätte früher bemerken sollen, dass ihr Ehrgeiz sie davon abhielt, Freundschaften zu schließen. Aber ich sah über die misstrauischen Blicke der anderen Novizen hinweg und tat die Streiche als Spaß ab. Ich glaube, mit der Zeit gefiel es Morrigan sogar, von allen gefürchtet zu werden. Wann immer sie einen Raum betrat, kehrte Schweigen ein und die Blicke wichen ihr aus. Die Atmosphäre im Dorf wurde immer angespannter und als sie kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag zur Hexe ernannt wurde, war es für die meisten im Dorf eine riesige Erleichterung. Ihre Fähigkeiten würden es ihr erlauben, einen eigenen Zirkel zu gründen. Es stand fest, dass sie nicht bei uns bleiben würde."

      Gladys' Blick verlor sich irgendwo in der Vergangenheit und ich wünschte, ich könnte die Bilder sehen, die ihr in diesem Moment vor Augen standen.

      "Dann ist sie einfach gegangen?", hakte ich nach, als sie auch nach Minuten noch schwieg. "Du hast nie wieder von ihr gehört?"

      Gladys antwortete nicht sofort und ich ahnte, dass hinter dieser Geschichte mehr steckte, als es zunächst den Anschein gehabt hatte.

      "Es gab einen Brand", eröffnete sie schließlich. "Die Hütte, in der wir beide gelebt haben, ist dabei bis aufs Fundament heruntergebrannt. Morrigan ist in dieser Nacht verschwunden und ich habe nichts mehr von ihr gehört bis ..."

      Unvermittelt hob sie den Kopf. In ihrem Blick spiegelten sich die Scherben all dessen, was in jener Nacht zerbrochen war. "Ich weiß bis heute nicht, was geschehen ist. Doch ich kann den Gedanken nicht abschütteln, dass ich für all das verantwortlich bin. Ich habe ihr blauäugig diese Macht in die Hände gelegt und kann nichts tun, als zusehen, wie sich selbst und dieses Land zerstört."

      In Gladys' Miene spiegelten sich unzählige Gefühle – Trauer und Wut im gleichen Maß wie Schmerz und Hilflosigkeit.

      "Du kannst nichts dafür, dass ...", setzte ich an, doch sie schüttelte den Kopf.

      "Wir wissen beide, dass das nicht stimmt, Liebes", entgegnete sie und nahm meine Hand. "Aber wie es aussieht, habe ich eine zweite Chance bekommen. Du, Evangeline, bist alles, worum ich die Götter in den letzten siebzehn Jahren gebeten habe. In deiner Magie spüre ich dieselbe Stärke und dasselbe Talent, das ich damals bei ihr gespürt habe."

      Ihre Finger schlossen sich ein wenig fester um meine, bevor sie ihre Hand löste.

      Ich war sprachlos. Gladys' Worte erschütterten den fragilen Frieden, den ich mit meiner Situation geschlossen hatte, bis in die Grundfesten. Nicht nur hatte sie bestätigt, was ich seit zwei Wochen fürchtete – der Fakt, dass Morrigan eine der mächtigsten Hexen überhaupt war, ließ meine Hoffnungen auf die Größe eines Staubkorns schrumpfen. Talent hin oder her – wie sollte ich mit meinen zwei Wochen Novizenunterricht einer auf sieben Spezialgebieten ausgebildeten Hexe die Stirn bieten?

      "Es klingt absurd, ich weiß", sagte Gladys in diesem Moment. "Aber es ist dir bereits gelungen, Hoffnung in die Herzen Tausender zu hauchen. Ciaora verändert sich – es erwacht aus einer Starre, die viel zu lange angehalten hat – und das allein wegen dir. Jetzt gib dir nur einen Moment und versuche, dir vorzustellen, was alles möglich werden kann, wenn du nur ein wenig Hoffnung in dein eigenes Herz hauchst."

      Hoffnung. Immer wieder schien es auf dieses eine Wort hinauszulaufen. Hoffnung für andere, Hoffnung für mich, Hoffnung für Ciaora. Doch um Morrigan zu besiegen, erforderte es weit mehr als nur Hoffnung.

      Das Gefühl, dieser Aufgabe nicht gewachsen zu sein, traf mich wie ein Schlag. Ich wusste zu wenig und hatte zu wenig Zeit – ich trug all diese Magie in mir und am Ende würde es doch nicht genug sein. Ich würde nicht genug sein.

      "Ich glaube, es ist am besten, wenn du das alles erstmal sacken lässt." Gladys legte ihre Hand über meine. "Wir sind alle für dich da."

      Ich nickte, bevor ich den Kopf hob und sie ansah.

      "Was werden wir unternehmen?", fragte ich leise.

      Sie erwiderte meinen Blick und ihre haselnussfarbenen Augen funkelten im goldenen Schein der magischen Laternen.

      "Weitermachen", sagte sie und richtete sich auf. "Ich habe mich bereits kurz nach deiner Ankunft um spezielle Verhüllungszauber für das Dorf gekümmert, sodass wir uns nicht darum sorgen müssen, dass Morrigan dich mittels Magie aufspürt. Unsere einzige Mission ist es jetzt, dich vorzubereiten."

      Während sie sprach, trat sie an eines der Regale und fischte ein kleines, unscheinbares Buch heraus.

      "Gegen


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