Die Tagebücher des Michael Iain Ryan. Nadja Losbohm
von dem Geflecht, das er gewoben hatte. Der Abschluss klang für mich jedoch beinahe wie eine Drohung. Würde es wirklich so dramatisch, so einschneidend werden, diese Reise, dieses Abenteuer? Mein Herz raste vor lauter Aufregung und Spannung. Ich war hin- und hergerissen zwischen Angst vor dem Unbekannten und Freude auf den Wandel, der mir zufolge de Forestiers bevorstand.
Ein lautes Klopfen hinter meinem Kopf zerriss den Schleier der Verzauberung und des Rätselhaften, der sich über mich gelegt hatte, und Rousels Stimme rief: „Scaër , Eure Exzellenz.“ Ich blinzelte den Bischof verwirrt an. Seufzend wandte er sich dem Fenster auf seiner Seite zu, schob mit einer Hand den Vorhang beiseite, um hinauszusehen. Ich rutschte mit meinem Hintern über den Damast mit seinen edlen Stickereien und warf ebenfalls einen Blick nach draußen. Ich wusste nicht, was oder wer Scaër war: ein Ort, ein fremdes, kriegerisches Volk oder eine Tierart. Ich sah keine exotischen Lebewesen, ob nun auf zwei oder vier Beinen, und die Landschaft unterschied sich nicht von der, die ich seit dem Vortag vor der Nase hatte. Ich zuckte verständnislos mit den Schultern, registrierte aber eine Bewegung neben mir, als der Bischof den Arm hob und mit dem Finger auf die linke Seite zeigte. Ich lehnte mich weiter vor, verrenkte mir fast den Hals, als ich in die Richtung sehen wollte. Doch mein Körpereinsatz wurde belohnt. Dort in der Ferne, weit am Horizont gelegen, entdeckte ich Gebilde so groß wie der Nagel meines kleinen Fingers. Es waren die Häuser einer Ortschaft namens Scaër, wie de Forestier mir erklärte.
„Nicht groß, nicht hübsch, nicht alt, erst vor ein paar Jahren angesiedelt“, sagte er gelangweilt und tat meine Begeisterung, die ich bei dem Anblick von mehr als einem Haus und von etwas anderem als den verhassten Klostermauern zeigte, mit einem Winken seiner Hand ab. „Immerhin haben wir es bis hierher geschafft. Ein Fortschritt, wenn auch ein kleiner“, meinte er und gähnte beherzt.
„Bedeutet es“, begann ich atemlos zu sagen, da ich ganz aufgeregt war, „wir sind bald da?“ Er lachte, als er das Leuchten in meinen Augen sah.
„Du bist wie ein Welpe, der zum ersten Mal zum Spielen auf die Wiese gelassen wird. Mit heraushängender Zunge und großen runden Augen besieht er sich die unbekannte Welt, tollt zwischen Blumen umher und jagt Schmetterlingen nach“, meinte er glucksend. Das Feuer in meinen Augen erlosch. Er verglich mich mit einem Hund? Als er die Veränderung an mir bemerkte, lachte er schallend. Er lehnte sich vor und tätschelte meine Wange. „Humor, Michael, du brauchst viel mehr Humor. Er würde dir gut stehen. Doch um deine Frage zu beantworten: Nein, wir sind noch lange nicht da. Wir werden bald den gewohnten Pfad entlang des Flusses“, er deutete zum Fenster auf der anderen Seite der Kutsche, durch das ich die glitzernde, verlockende Oberfläche des Flusses sehen konnte, „verlassen und uns mehr nach Nordwesten halten, bis wir in etwa zwei Tagen, so Gott will, in Concarneau eintreffen. Dort wird das Wetter hoffentlich erträglicher sein als dieser Glutofen von Scaër.“ Er blähte die Wangen auf und pustete die Luft aus. Ein dumpfer Ton ertönte, als er seinen Kopf zurück gegen die Wand lehnte. „Ein Nickerchen tut jetzt sicher gut“, flüsterte er, schloss die Augen und begann umgehend zu schnarchen. Ich zog einen Flunsch und blickte wieder aus dem Fenster auf die langsam verschwindenden Häuser Scaërs. Der Bischof mochte sich ausruhen und schlafen wollen. Doch meine Müdigkeit war wie weggeblasen. Zu gleichen Teilen herrschten in mir Missmut über seinen Vergleich und freudige Nervosität. Zwei Tage, zwei Tage!
***
Ich lege den Stift aus der Hand und strecke meine Finger aus. Die Gelenke knacken. In den Muskeln wütet ein lieblicher Schmerz vom Halten des Schreibutensils. Ich schiebe den Stuhl zurück und stehe auf. Auch wenn ich äußerlich wie ein einunddreißig Jahre junger Mann aussehe, straft mein schmerzender Rücken dem Lügen. Ächzend richte ich mich auf, dehne und strecke mich. Es ist Zeit für eine Pause, denke ich und verlasse meinen Schreibplatz. Ich vertrete mir die Beine, indem ich langsam durch die Gänge meines unterirdischen Heims schlendere. Meine Fingerkuppen streichen über die kühlen steinernen Höhlenwände, denen durch das matte, gelbe Licht der Lampen an ihnen Wärme verliehen wird. Ich passiere die geschlossenen Türen der verschiedenen Räume, bis ich an die Treppe gelange, die hinauf in mein Büro führt. Ich gehe sie langsam hoch, verharre einen Moment lang auf ihr und schaue zurück auf dieses Wunderwerk, in dem ich leben darf. Es ist atemberaubend und einzigartig.
Ehrgefühl steigt in mir auf. Ja, ich fühle mich privilegiert, es mein Zuhause nennen zu dürfen, und doch verspüre ich außer dem Wehmut und gar Einsamkeit, als ich die Stille wahrnehme, die die ganze Anlage erfüllt. Ich fühle mich mit einem Mal allein. So sehr, dass es mich zu überwältigen droht und ich das Geländer vor mir umfassen muss, um nicht zusammenzubrechen. Ich lege den Kopf in den Nacken, schließe die Augen und stoße ein Seufzen aus. „Nein“, hauche ich und schüttele den Kopf, „ich darf mich dem nicht hingeben.“
Entschlossen drücke ich den Rücken durch, lächele und denke mit Dankbarkeit an das, was ich habe, und nicht mit Gram an das, was mir vielleicht fehlt. Ich setze meinen Weg fort, betrete mein Büro und gehe zu dem Wandteppich, der hinter meinem Schreibtisch hängt. Es ist ein bewundernswertes Werk der Webtechnik, nahezu ein Kunstwerk, das das Abbild der Heiligen Maria, Mutter Gottes, zeigt. Der Teppich ist fast so alt wie ich, wenn nicht sogar älter, und war ein Geschenk von Gerbert de Aurillac gewesen, den ich einst als Papst Silvester II kennengelernt hatte. Ich keuche überrascht auf und mache mir in Gedanken eine Notiz, dass auch er unbedingt Erwähnung finden muss in meinen Tagebüchern. Er war ein interessanter Zeitgenosse gewesen, der ebenso wie ich aus armem Hause stammte und doch zu Großem bestimmt gewesen war. Auch die Begeisterung für die Astronomie teilte ich mit ihm. Ich nicke. Ja, ich muss par force über ihn und die Zeit mit ihm schreiben.
Meine Finger streichen zärtlich über sein Geschenk, dessen Schönheit die Zeit keinen Abbruch getan hat. Die Farben, nun verblasst, hatten vor Jahrhunderten kräftig geleuchtet: Rot, Blau, Grün und Gold. Doch nach wie vor wirkt das Bildnis naturgetreu und lebendig. Ich strecke meinen Arm zur rechten Seite und finde dort das Seil, das den Teppich zur Decke hinaufbefördert. Ich ziehe an ihm. Das gütig lächelnde Antlitz der Heiligen Maria, Mutter Gottes, gleitet an mir vorbei nach oben und enthüllt das hinter ihr verborgene Geheimnis: meinen eigenen kleinen Garten.
Ich öffne die Glastür. Ein kühler Windhauch schlägt mir entgegen und zerzaust mein Haar. Ich trete auf die oberste Stufe der Steintreppe und überlege, ob ich ganz hinausgehen soll. Die Möglichkeit, dass mich jemand sieht, besteht nicht. Eine etwa vier Meter hohe Ziegelmauer umgibt die kleine Oase, in der Kastanienbäume, Wildblumen in den verschiedensten Farben, Efeu, Fliedersträucher und Farne stehen, und bietet mir Schutz vor neugierigen Blicken. Ich kümmere mich nicht um ihn, schneide kein Gras und stutze keine Hecken. Alles ist in seinem natürlichen Zustand belassen, und die Vielfalt kann ich mir nur damit erklären, dass der Wind die unterschiedlichen Samen der Pflanzen gesammelt und hier abgeladen hatte. Ich wandere auch nicht oft durch ihn. Ich weiß nicht, wieso. Ungern denke ich darüber nach, ob es deswegen ist, weil ich Angst habe, von einem Ast erschlagen zu werden und er mich so schwer verletzt, dass ich es nicht mehr zurück auf den heiligen Boden der St. Mary‘s Kirche schaffe und sterbe. Ich fürchte mich nicht grundsätzlich davor, die Kirche zu verlassen und die Verbindung zu ihr zu lösen, die mein Überleben sichert. Sobald ein neuer Jäger oder eine neue Jägerin zum ersten Mal auf die Jagd geht, begleite ich ihn oder auch sie. Bei aller Bescheidenheit, aber ich weiß, dass ich gut bin, sehr gut sogar, in dem, was ich in einem Kampf tue. Ich gehe nie leichtsinnig vor, doch ich habe höchstes Vertrauen in meine Fähig- und Fertigkeiten.
Beinahe muss ich selbst über meine Verschrobenheit dahingehend lachen. Es ist schon seltsam. Bei der Jagd mache ich mir keine Sorgen, mich könnte ein herabstürzender Stein treffen, aber die Gefahr eines Astes, der mich niederstreckt, hält mich davon ab, in den Garten zu gehen. Vielleicht liegt es daran, dass ich bei der Jagd nicht allein bin? Ich setze einen Fuß vor, stelle mich meinen Bedenken und gehe die Treppe hinunter. Ich folge den Steinplatten, die im hohen Gras fast untergehen, und gelange zum Lampenputzergras. Die Flaschenbürsten ähnlichen Blütenähren gleiten durch meine Finger und kitzeln meine Haut. Ich zupfe mir eine Ähre ab, um sie mit mir hineinzunehmen. Für ein paar weitere Minuten streife ich umher und berausche mich an den Farben und Düften der Gewächse.
Die Erinnerung an meine alte Heimat schleicht sich in mein Bewusstsein. Mit ihrer