Abschiedsbrief an die Liebe. Patrick Sandro Nonn
meine Bitte schon erhört. Aber wer konnte das sagen, solange wir nicht gemeinsam in einer Klasse waren? Schließlich kam auch unser Lehrer, wir drängelten uns in den Klassenraum direkt rechts hinter dem Eingang. Ich ergatterte einen Platz ganz in deiner Nähe. Ein Außenseiter in der Hufeisenform, in der die Bänke angeordnet waren, aber immerhin in deiner Nähe und das allein zählte. Mein Leben war fürs Erste gerettet.
Die erste Stunde ging dahin, und ich nutzte diese Zeit sehr sinnvoll. Ich prägte mir dein Gesicht ein. Ich ließ deine Schönheit in mein Gedächtnis einbrennen. Ich schuf dir, meiner Göttin, einen Tempel in meinem Geist. Einen Ort, wo ich dich wieder finden konnte, egal was die Wogen der Zeit, ihre Fluten und Stürme auch mit uns vorhaben mochten. Noch gab es kein uns, noch wusste ich nicht einmal deinen Namen. Aber ich sorgte schon einmal vor und baute dir diesen Tempel. Die ersten neunzig Minuten vergingen wie ein Wimpernschlag, und in der ersten Pause erfuhr ich deinen Namen von einem echt sympathischen Typ aus unserer Klasse, deinem Cousin Matthias. Er wurde recht bald mein bester Freund und obwohl wir lange nichts mehr voneinander gehört haben, mein bester Freund wird er wohl immer bleiben. Er sagte mir wie du heißt.
Als sich hier nun dein Name mit dem bewundernswerten, sonnenumglänzten, anmutigen und strahlend schönen Bild von dir verband, war die Gedankenkomposition vollendet. Eine jubilierende, tönende Symphonie. Aus dem Gedankenbild wurde ein lebendiger Mensch, aus dem schlichten Tempel ein Palast. So unerreichbar du an jenem taufrischen Vormittag für mich warst, umso näher war ich dir in meinem Herzen und in meiner Seele: Stephanie.
Kann es sein? War das der Anfang vom Ende? Hat es jemals angefangen? Wann war es vorbei? Gibt es das Vorbei, wenn die Urgewalt einer brennenden Liebe die treibende Kraft im Spiel ist? Ja und Nein, denke ich.
Ich weiß nicht mehr, wie es mir gelungen ist, in deine Nähe zu gelangen. Vielleicht waren es die endlosen Runden im Schulpark, die ich mit deinem Cousin gemeinsam um eure Mädchenclique gedreht habe und immer wieder auffällig zufällig an euch, an dir vorbeikam. Wir hatten nur die Möglichkeit euch auf die Nerven zu gehen. Dir. Um dich allein ging es mir. Also drehte ich meine Bahnen, wie ein nutzloser, toter Satellit im Orbit. Ich kannte dich kaum, aber dieses Gedicht entstand während einer Umrundung:
Kometen in der Umlaufbahn
Die haben keinen Halt
Die tauchen auf
Und schwirren ab
Und man vergisst sie bald
So wirst auch du mich irgendwann
In dunkle Nacht verdrängen
Ich werd’ jedoch mein Leben lang
Auf ewig an dir hängen
Erst viel später sollte sich herausstellen, wie richtig ich damit lag. Glücklicherweise hatte ich mir damals schon angewöhnt, gute Einfälle aufzuschreiben.
Irgendwann und irgendwie haben wir uns kameradschaftlich zusammengefunden. Haben gemerkt, dass wir dieselbe Sprache sprechen. Wir lernten uns zu unterhalten, lernten uns kennen. Fanden Themen über Themen und jede Menge Gesprächsstoff. Und ich war in deiner Nähe. Meinem brennenden Herzen war das jedoch ein bisschen zu wenig.
Deine beste Freundin, die ich schon seit dem Kindergarten kannte, brachte mir, als ich sie fragte, schonungslos bei, dass du keinen Freund haben wolltest. Das glaubte ich ihr. Eine ganze Zeit lang stellte dies die Wahrheit dar. Manchmal sieht man die Wahrheit. Mann kann sie mit bloßem Auge erkennen. Sie hat härtere Konturen als die Lügen, die einen umschleichen. An diese Wahrheit glaubte ich. Ich glaubte sie und wurde das, als was du mich in deinem Leben haben wolltest. Nicht ganz ein Freund, aber dein bester Kumpel. Es wurde zu einem geflügelten Wort zwischen uns. Teuflisch. Ich habe gelernt, es zu hassen: Bester Kumpel.
Jedenfalls habe ich diese Wahrheit dermaßen verinnerlicht, dass meine Wachsamkeit mit jedem Tag, den ich als dein bester Kumpel an deiner Seite genießen durfte, abnahm und weniger wurde und ich der Wachsamkeit müde, bis sie endlich einschlief. Du wolltest keinen Freund, predigte Nadine. Wahrheit, Gesetz, Amen. Die Tage an deiner Seite formierten sich, wie die Zeit es tut, seit der Mensch denkt. Tage, Monate, Jahre. Ich liebte dich, deshalb gab ich mich damit zufrieden. Vier Jahre vergingen. Der letzte Funke Wachsamkeit in mir lauerte noch immer auf deine Erweckung, auf das Ende deines kindlichen Dornröschenschlafs, als Silke mich mit der Frage, ob ich mit ihr gehen wollte, überbracht von ihrer Freundin, in ihren Bann zog.
Es war eine kurze und recht glückliche Episode in meinem Leben, aber leider fiel sie mit dem Zeitpunkt deines Aufwachens zusammen. Die viel schrecklichere Wahrheit, nämlich, dass ich, versunken in Silkes rehbraune Augen, eng umschlungen im Schulpark spazierend, deine aufflammende Liebe zu mir und deine glühende Eifersucht nicht bemerkte, lasse ich nur selten an mich heran.
Wenig später endete meine kurzfristige Romanze mit Silke, denn sie war in jugendlicher Liebe zu unserem Klassenkameraden Sascha entbrannt, der sie ab diesem Zeitpunkt wohl nie wieder als Flachbrett verspottete. Der letzte Donnerschlag dieser Episode traf mich schließlich mit der Nachricht, meine beiden besten Freunde, Matthias und du, würden die Schule verlassen, um den Realschulabschluss nachzuholen. Ich blieb noch ein halbes Jahr und starrte auf deinen leeren Platz, ohne auch nur eine Silbe über deine Gefühle erfahren zu haben. Meine Liebe zu dir war jedoch zurückgekehrt, auf den Platz in meinem Herzen, der ihr rechtmäßig zustand.
Bald darauf sollte ich erfahren, wie sich glühende Eifersucht anfühlt. Stärker noch als bei den ersten bösen, für dich tödlich endenden Seiten, die ich im fünften Schuljahr über dich schrieb. Die Gelegenheit dazu bot sich dir bei der Party an deinem vierzehnten Geburtstag. Unsere erste Party.
Du hattest einen Freund. Euch verliebt knutschend im Zentrum der Tanzfläche zu sehen, schoss die erste glühende Nadel ab, die sich durch den Mittelpunkt meines Lebens bohrte. In unseren Telefongesprächen war dieser Kerl zwar schon des Öfteren schwärmerisch von dir erwähnt worden, hier jedoch endete alles Träumen und Verdrängen für mein phantasiebegabtes Gehirn. Das war erst der Anfang der Realität. Den zweiten Nadelstich, vom Gefühl her genau so köstlich wie der erste, versetzte mir, zu sehen, mit welcher raffinierten Weiblichkeit, die jetzt ihm galt und auf die ich so lange vergeblich gelauert hatte, du es vermochtest, die anderen Mädels, die sich um den langhaarigen Schönling scharten, zu vertreiben. Mit einer simplen und unmissverständlichen