Über das Schreiben eines Romans: 55 Schreibtipps für Profis. Stephan Waldscheidt
positiven Eigenschaften beleuchten jedoch nur eine Seite der Heldin. Sie muss uns auch einen Grund geben, weswegen wir uns emotional an sie binden, uns in sie einfühlen. Und das tut Vesper, tut ihr Schöpfer Marzi:
Vesper ist neu in der Schule, die Umgebung, die Leute sind ihr fremd. Sie kann wenig mit diesen seltsamen Modepüppchen anfangen, die sie zu ihrer Freundin machen wollen, nicht ihr zuliebe, sondern weil ein angesagter Junge auf Vesper steht. Dieses Gefühl, neu und fremd zu sein, kennt jeder. Wir fühlen mit Vesper mit, identifizieren uns bestenfalls mit ihr.
Vesper wird von ihren Eltern vernachlässigt (versteht sich aber gut mit ihnen, wenn sie denn mal da sind). Auch hier fühlen wir mit, eine starke Emotion. Dass Vesper sich dennoch nicht mit ihren wenig elterlichen Eltern fetzt, rechnen wir dem Mädchen unbewusst hoch an. Und mögen sie ein Stück mehr dafür.
Noch stärker aber dürfte diese Emotion sein: das Gefühl starker Ungerechtigkeit, weil Vesper in ihrer letzten Schule von ihrem Lehrer begrabscht wurde – und sie, nicht der Lehrer von der Schule flog.
Auch Vespers Taten nehmen die Leser für sie ein: Sie kümmert sich um die kleine Tochter einer Freundin, ganz offenbar uneigennützig.
Ohne das Rad des Erzählens neu zu erfinden, nimmt Marzi die Leser für seine Heldin ein. Auch Sie dürfen sich dabei an Bewährtes halten und sich auf seine Wirkung verlassen. Was wir an Menschen schätzen und was sie tun müssen, damit wir sie mögen können und ihnen näherkommen möchten, ist keiner Mode unterworfen. Die meisten dieser Handlungen und Eigenschaften sind heute so wirkungsvoll wie vor dreißig Jahren und werden es in dreißig und mehr Jahren auch noch sein.
Das Wichtigste: Achten Sie in Ihrem Roman darauf, dass der Leser schnell eine Heldin, einen Helden hat, mit dem er sich emotional verbinden kann. Denn egal, wie aufregend und originell das Kommende an Plot sein mag, ohne dieses emotionale Interesse an Ihrer Hauptfigur werden Sie Ihre Leser nicht bei der Stange halten.
Und noch einmal, zum Mitschreiben: Ohne emotionale Bindung an Ihre Hauptfigur(en) wird der Roman für die Leser nicht funktionieren. Keine Ausnahmen. Nein, selbst bei Ihrem wirklich sehr originellen Plot nicht, tut mir leid.
Gerade wenn sie einen vermeintlich einzigartigen Plot oder eine raffinierte Erzählkonstruktion verwenden, setzen manche Autoren dem Irrtum auf, sie könnten dadurch Mängel ihrer Charaktere wettmachen.
Sie werden hoffentlich sehr schnell selbst bemerken, dass Ihr Roman nicht funktioniert. Und nicht erst einen Agenten oder eine Lektorin brauchen, die es Ihnen sagt. Dann nämlich ist es meist schon zu spät. Auf kaum etwas wird in Verlagen und Agenturen so genau geachtet wie darauf, ob der Leser rasch eine emotionale Bindung zum Held oder zur Heldin aufbauen kann.
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