Mein Freund Jimmy. Dana Kroesche
Slip bekleidet, durch den Verband am Bein wollte ich keine Hose anziehen und so fühlte ich mich gerade wohl, auch wenn ich so stark abgenommen hatte.
Das gleiche Spiel wie gestern begann. Zug für Zug entfernten sich die Gedanken und Schmerzen.
So ging es ein paar Abende nacheinander weiter. Die Tüte wurde immer leerer.
Ich machte mir keine Sorgen wegen der Sucht oder Abhängigkeit, mein Geist und Körper brauchten das momentan einfach, damit es auszuhalten war. Jimmy hatte dafür Verständnis. Er traute mir nicht zu, dass ich den gleichen Fehler begehen würde, welcher mir so ein derartiges Leiden bereitete.
Tage darauf besorgte er uns eine neue, kleine Tüte. Er hatte bewusst nicht mehr so viel gekauft, um mir ein Zeichen zu setzen, dass es nicht immer so weitergehen konnte.
„Kann sein, dass das hier etwas stärker ist als die letzten Male.“ Trotz dieser Aussage, gab er mir diesmal einen ganzen Joint in die Hand, den ich anzündete und genüsslich bis zum Schluss rauchte.
Wir sprachen nicht.
Mit jedem Atemzug nahm die Wirkung zu. Ich beobachtete wieder das Fallen meines Körpers. Die Taubheit im Herz und Geist begann. Der Verband um mein Bein fing an mich zu stören und ich war plötzlich wie besessen davon ihn loszuwerden. Ich begann daran herumzufummeln, bis er sich löste und langsam zu Boden glitt. So wie ich es getan hatte.
Wie sollte es nur weitergehen?
Es war wohl echt stärkeres Zeug, denn auf einmal stand Sam mitten im Raum. Ich keuchte und bewegte mich auf ihn zu.
Der Prozess mit der Trauer klarzukommen war eigentlich, den Umständen entsprechend, gut vorangegangen. Ich war jeden Morgen aufgestanden und hatte mich mit geringfügigen Dingen beschäftigt. Draußen war ich zwar noch nicht gewesen, aber das war nur eine Frage der Zeit.
Doch jetzt stand er vor mir und für diesen Moment kam alles wieder hoch. Ich spürte seinen leichter werdenden Körper in meinen Armen, meine Schreie, meine Tränen, die ewige Dunkelheit.
Ich starrte ihn einfach nur an. Ich wollte ihm alles an den Kopf werfen, was er mir angetan hatte. Wie er mich auf dieser großen Welt alleine gelassen hatte, aber meine Kehle war zugeschnürt.
Ich musterte ihn. Der Schein der Lampe ließ seine blonden Haare golden schimmern. Er trug eine alte Levis Jeans und ein schwarzes T-Shirt, sein Lieblingsoutfit. Er sah kurz auf den Boden und dann mir in die Augen: „Mein süßes Mädchen. Was machst du denn da? Du versuchst die Dinge zu betäuben, die du verarbeiten sollst. Genau so hatte es bei mir begonnen, weißt du nicht mehr? Ich bin vor der Verarbeitung geflohen, vor der Aufgabe, die mir das Leben damals gestellt hat. Du hast erlebt, wo es mich hingeführt hat. Marleen, du musst endlich die Augen wieder vollkommen öffnen und weiterleben. Für uns. Indem du weiterlebst, werde ich es auch. Auch wenn es so sehr schmerzt, es ist nur der Verlust meines körperlichen Daseins. Aber ich bin weiterhin bei dir. In jedem Atemzug, in jedem Herzschlag, in jedem Windhauch, in jedem Sonnenstrahl, der deine Haut berührt. Du musst es nur erkennen und dich gegen das Verlangen durchsetzen, alles aufzugeben. Niemand der stirbt, möchte so etwas hinterlassen und auch ich nicht. Ich möchte dich lachen sehen. Ich möchte dich wieder leben sehen. Ich möchte, dass du dein Leben besser im Griff hast, als ich meines. Ich möchte, dass du älter wirst als 21. Ich möchte nicht, dass du mich vergisst, aber ich möchte dich wieder lieben sehen. Dass du unsere Liebe verbreitest. Sodass mehr Menschen verstehen, was es eigentlich bedeutet zu lieben. Liebe heißt nicht sich aufzugeben, wenn jemand stirbt. Liebe heißt, weitermachen und ihn in guter Erinnerung bei sich tragen. Kämpfe Marleen. Verkörpere das starke Mädchen, welches du durch mich geworden bist. Du hast mehr erfahren als andere. Nutze das. Nutze dein Wissen und teile es mit der Welt. Verkrieche dich nicht länger. Geh zu Jimmy und liebe ihn. Gib ihm die gleiche Chance wie mir. Er ist nun für dich da. Ich kann es nicht mehr. Ich liebe dich mein Mädchen. Ich werde hier auf dich warten, bis wir für immer zusammen sind.“
Ich spürte seinen Kuss.
Ich öffnete die Augen, wie er es mir gesagt hatte.
Da war nichts. Nur das Fenster aus dem ich mich selbst anstarrte.
„Sam…“ Ich stand verlassen und alleine mitten im Raum.
Jimmy näherte sich vorsichtig und legte von hinten die Arme um mich und die Hände auf meinen Bauch. So hatte Sam mich oft gehalten. So fühlte ich mich sicher und behütet. Ich ließ es zu, dass Jimmy nun diese Position einnahm.
„Ist alles in Ordnung?“, flüsterte er.
„Ich glaube jetzt schon.“
Wir wiegten sachte vor und zurück. Dies sollte bis auf Weiteres meine letzte Droge gewesen sein.
Wir legten uns schlafen und ich entglitt voller Zuversicht in das Dunkel.
Als die Sonne diesmal ins Zimmer schien, drang sie das erste Mal wirklich zu mir durch. Ich zog mir ein Shirt über, ging zum Fenster und öffnete es. Wie lange hatte ich keine frische Luft mehr geatmet? Das letzte Mal, als ich draußen gewesen war, war ich hierher gerannt. Die beiden haben mich wortlos aufgenommen.
Ich wusste, der Schmerz wäre jetzt nicht vorbei und ich würde noch oft weinen, aber ich wollte es ändern. Ich wollte die Oberfläche erreichen und wieder in die Welt hinausgehen, mit einer Stärke, dass ich anderen ein Vorbild sein konnte.
Und ich würde es schaffen.
Zusammen mit Jimmy.
„Morgen du Schöne“, grummelte er, als hätte nun auch er meine Gedanken gehört.
Ich lächelte ihn an: „Hi.“
„Wie geht es dir?“
„Ganz in Ordnung gerade. Ich denke gestern hat sich echt etwas in mir verändert.“
„Er war da. Hm?“
Ich setzte mich auf die Bettkante: „Ja, zumindest in meiner Vorstellung. Er hat sich verabschiedet. Jetzt versuche ich mich wieder euch zuzuwenden.“
Er sah erleichtert aus, als er seine Hand in meinen Nacken legte und mich zu sich zog. Ich kroch wieder unter die Decke zu meinem Jimmy.
„Und jetzt erzähl mir mal, was in meiner Abwesenheit alles vorgefallen ist.“
Jimmy drehte sich auf den Rücken. „Okay, ich weiß gar nicht, ob du das alles wissen willst. Aber du hast ein Recht, es zu erfahren.“ Ich sah ihn aufmerksam an. „Zuerst muss ich dir etwas gestehen. Ich war nicht genau, als du mich gefragt hast, wie lange du weggetreten warst. Es waren fast zwei Monate.“
Er pausierte und schaute mich an, um meine Reaktion zu beobachten.
Ich sog scharf die Luft ein, aber nickte nur.
„Ich habe in der Zeit ein paar Konzerte gegeben. Die Schule hat wieder angefangen, aber da war ich nur sporadisch, weil ich in deiner Nähe sein wollte. Mein Dad und ich haben uns abgewechselt. In seinem Job hat sich auch einiges geändert. Er ist zumindest aktuell, öfter Zuhause als früher. Das nächste ist ein schwieriges Thema.“, er machte eine bedeutungsschwangere Pause, „deine Eltern haben auch entsprechend agiert.“
Meine Eltern, die existierten ja auch noch. Vor diesem schrecklichen Augenblick, der mein Leben entgleisen ließ, war ich aus dem Internat geflohen, in das sie mich gesteckt hatten. Ich habe sie fast ein Jahr nicht mehr gesehen. Sie hatten selten angerufen, waren nie da gewesen und einen Besuch daheim ermöglichten sie mir nur an Weihnachten. Was für eine immense Liebe. Aber auf einmal tauchten sie wieder auf. Als hätten sie nicht genug angerichtet.
„Als sie das mit deinem Ausbruch hörten, starteten sie eine Polizeisuche nach dir. Erfolglos. Dein Bild in allen Zeitungen. Dad und ich haben deshalb Kontakt zu ihnen aufgenommen. Sie hatten dich bereits aufgegeben und waren erleichtert.“
Die beiden und erleichtert, das waren sie höchstens, weil ich mich nicht auf dem Strich befand.
„Weißt du noch, wo du dich beim Rasieren geschnitten hast? Kurz bevor ich hochkam, waren die beiden da und wollten dich sehen. Dies habe ich nicht