Transkription. Christoph Papke
Weisheit und globale Relevanz der gesamten Weltliteratur in sich vereinigt. Ja, es stimmt, nicht ein einziger Satz dieses Manuskripts stammt aus meiner Feder, dennoch ist das, was ich geschaffen habe, einmalig und wird der Welt noch einen großen Dienst erweisen.“
Lammroth begann sich in Rage zu reden. Er fuhr fort: „Wissen Sie überhaupt, welchen Aufwand es bedarf, tausende von Büchern zu sichten? Können Sie ermessen, was es bedeutet, aus den besten, gewaltigsten und erfolgreichsten Werken der Weltliteratur jeweils nur einen einzigen, beispielgebenden Satz nehmen zu können und diesen in einen sinnvollen Zusammenhang mit allen anderen ausgewählten zu bringen? Wie schwierig die Entscheidungsfindung war und wie mühselig das Zusammensetzen der einzelnen Puzzleteile zu einem lesbaren, Sinn gebenden Plot? Ich habe eine brutale Auswahl treffen müssen aus sämtlichen je veröffentlichten Büchern der gesamten Menschheitsgeschichte!“
Hartmann unterbrach den Redner: „Was hat Sie qualifiziert, unter allen Büchern, die je geschrieben wurden, die maßgebliche Auswahl zu treffen? Wer sind Sie, darüber zu urteilen, welches Werk es Wert ist, in Ihrer Zusammenfassung zu erscheinen?“
Lammroth schien diese Frage erwartet zu haben. „Ich habe weltweit knapp eintausend Literaturlehrstühle an Hochschulen angeschrieben, ungefähr ebenso viele Literaturkritiker, natürlich nur die profiliertesten. Ich habe Kontakt zu den am besten ausgestatteten Bibliotheken und versiertesten Buchhandlungen auf der ganzen Welt aufgenommen und selbstredend die Meinung der renommiertesten und bekanntesten Autorinnen und Autoren, eingeschlossen sämtliche lebenden Pulitzer- und Literaturnobelpreisträger, eingeholt. Ich habe Historiker, Meinungsmacher und Politiker aller Richtungen und Facetten um eine Longlist gebeten, dazu Kirchenfürsten und Journalisten.“
Hartmann schaute Lammroth erstaunt ins Gesicht: „Für einen einzigen Mann eine ganze Menge Arbeit. Übrigens, mir ist nicht in Erinnerung, dass Sie mich in dieser Angelegenheit jemals befragt hätten. Lammroth nickte: „Selbstverständlich habe ich auch Sie angeschrieben und um eine Liste der aus Ihrer Sicht bedeutendsten Bücher aller Zeiten gebeten. Allerdings habe ich anstelle einer Auswahlliste leider nur einen netten Brief Ihrer Presseabteilung mit einem freundlichen Hinweis auf Ihren hohen Anfall von Arbeitsaufgaben und der damit leider verbundenen Absage meines Wunsches sowie einer file list möglicher Datenquellen im Netz erhalten.“
Lammroth hatte ohne Zorn oder sichtbare Enttäuschung geantwortet. Erstens gehörten Absagen auf seine Anfragen ebenso zu seiner Recherchearbeit wie nie beantwortete, zweitens wusste er nun sicher, dass er Hartmann auf seine Fährte gelockt hatte. Er fuhr fort: „Um die Frage nach meinem Aufwand zu beantworten: ja, ich habe einen Gutteil meines Lebens damit verbracht, zu recherchieren, zu sammeln und auszuwerten. Natürlich habe ich mir als Computerspezialist für die Endauswahl der in das Buch aufzunehmenden Sätze, es sollten ja insgesamt genau 5000 sein, eine umfassende Datenbank gebaut, deren Inhalte anhand eines von mir speziell entwickelten Logarithmus auf Relevanz und Validität, Qualität und Interpretationsstabilität der empirischen Daten ausgewertet und weiterverarbeitet wurden.“
„Da waren Sie nicht der erste“, warf Hartmann ein, „Wie sind Sie weiter vorgegangen?“
Lammroth war über das Interesse seines Gesprächspartners nicht verwundert, hatte er diesen doch inzwischen in sein Spinnennetz locken können. „Mit Hilfe“, so seine Erklärung, „eines weiteren, von mir selbst entwickelten Computerprogramms. Mit diesem Prototyp habe ich auf der Grundlage linguistischer Analysen potenziell infrage kommende Sätze aus den einzelnen Werken extrahiert und zu einer schlüssigen Handlung zusammengefügt. Dass ich dazu technisch in der Lage bin, haben Sie ja bestimmt meiner der Leseprobe beigefügten Vita entnommen.“
Natürlich hatte Hartmann die Kurzvita des Plagiatverbrechers gelesen. Der Kerl war, ebenso wie er selbst, 1954 zur Welt gekommen, allerdings in der Nähe Berlins, also im Hoheitsgebiet DDR. Als berufliche Ausbildungen hatte Lammroth eine Lehre zum Elektromechaniker angegeben, an das sich später noch ein Studium der Informationsverarbeitung anschloss, als derzeitige berufliche Tätigkeit nicht Autor oder Schriftsteller, sondern EDV-Dozent mit unterschiedlichen Honoraraufträgen bei Berliner Bildungsträgern. Veröffentlicht hatte Lammroth noch nichts.
„Sie haben noch nichts veröffentlicht“, bohrte Hartmann aus weiterem Interesse nach, „Keine Epik oder Prosa? Keine wissenschaftlichen Artikel, keine Sachbücher?“
Lammroth schüttelte den Kopf.
„Und warum nun ausgerechnet dieses Buch voller gestohlener Sätze?“
Lammroth antwortete leiser, bedachter als zuvor. „Irgendjemand musste es ja tun. Irgendjemand sollte das Wichtigste zusammenfassen. Um es für die Nachwelt zu sichern. Nicht die ganze Literatur, die es zweifelllos verdient hätte.“
Mit Absicht ließ er eine kurze Pause folgen, als suchte er nach weiteren Worten. „Sehen Sie, Herr Hartmann, ich wollte der Menschheit mit diesem Buch einen allumfassenden, beispielgebenden, konzentrierten Abriss der gesamten Weltliteratur schenken. Wer auch immer in dieses Buch schaut, soll Antworten auf alle wichtigen Fragen finden. Und ich glaube doch, dass dies mir recht gut gelungen ist.“
Hartmann kam diese Aussage verstört und überheblich, fast schon krankhaft vor. Dennoch steckten in ihr vielleicht so etwas wie Engagement, Enthusiasmus und Überzeugung. Der Konzernchef bohrte weiter: „Und Sie glauben ernsthaft, dass Sie mit diesem Buch der Welt einen Gefallen tun? Einen Dienst erweisen? Oder wollen Sie in Wirklichkeit damit nur Geld verdienen?“
Lammroth lehnte sich zurück. „Was ist Schändliches daran, mit Literatur Geld zu verdienen, das brauche ich Ihnen ja wohl nicht zu erklären. Es stimmt, kein einziger Satz dieses Buches stammt aus meiner Feder. Aber bedenken Sie, statt beispielsweise im Deutschunterricht unter fremderzeugtem Druck qualvoll eine Handvoll ausgewählter Bücher lesen zu müssen, erhalten Sie mit meinem, ich sag jetzt mal Universalalmanach, einen Gesamtüberblick, der - genial zusammengestrickt - vielleicht sogar Appetit auf mehr Lesen macht, mit Sicherheit aber das Allgemeinwissen erheblich erweitert. Mit diesem einzigartigen Werk epischen Ausmaßes könnte für jeden Menschen das wirkliche Lesen beginnen. Selbst wenn Sie nie wieder ein weiteres Buch in die Hand nehmen würden, so hätten Sie doch das umfassendste aller Zeiten gelesen. Außerdem setze ich mit diesem Gesamtwerk den wichtigsten und bedeutendsten Schriftstellern, Politikern, Wissenschaftlern und Themen ein alle Zeiten überdauerndes Denkmal.“ Lammroth beugte sich näher zu seinem Gesprächspartner vor. „Und Sie, Herr Hartmann, bringen das Buch auf dem Markt. Das Buch der Bücher. Das Universalwerk. Das wichtigste Buch aller Zeiten. Das einzige, das die Welt im schlimmsten Fall sichern und retten muss.“
Hartmann stand kurz auf, um Getränke zu ordern. Er wandte sich an seinen Gast: „Auch Tee oder lieber einen Kaffee?“
„Auch Tee“, wickelte Lammroth seinen Gastgeber ein. Die aufgestellte Falle hatte so gut wie zuschnappt.
Während die Kontrahenten auf den Tee warteten, klärte Hartmann den Eingeladenen auf: „Sehen Sie, guter Mann, ein Manuskript, das ausschließlich aus zitierten Sätzen bereits veröffentlichter Texte zusammengestrickt ist, hält schon rein juristisch keiner Prüfung stand. Mit viel Wohlwollen könnte ein derartiges Buchprojekt vielleicht gerade noch so als Beispiel hochkrimineller Plagiatskunst herhalten. Aus lizenzrechtlicher Sicht aber wäre es ein schier aussichtsloses Unterfangen, die notwendigen Erlaubnisse beziehungsweise Genehmigungen zur Übernahme und Nutzung sämtlicher der in Ihrem Manuskript versammelten Sätze von den Rechteinhabern zu erhalten.“ Hartmann setzte sich wieder. „Abgesehen davon wirkt der komplette Erzählstrang, so wie er von Ihnen zusammengeschustert wurde, weder besonders fesselnd noch umwerfend interessant. Ihre Absicht zur Rettung der Weltliteratur in Ehren, aber sie ist naiv, töricht, im eigentlichen Sinn sogar weltfremd.“
Lammroth hörte geduldig schweigend zu - wie es sich für jemanden gehörte, der an sachlicher Kritik interessiert war. Hartmann musste während seiner Ausführungen innerlich ein wenig schmunzeln. Überkam nicht irgendwann so gut wie jeden in der Literatur Tätigen eine große Sehnsucht nach einem alles umfassenden Werk? Einem Buch, das komplett alles in sich vereinte, was die Dichtkunst jemals hervorgebracht hatte? Und konnte man aus diesem Grund nicht auch jenem armen Tropf verzeihen, der zwar mit unlauteren Mitteln, gleichwohl aber mit viel Mühe und Akribie gesammelt und geschuftet,