Gesprengter Horizont. Matthias Nelke

Gesprengter Horizont - Matthias Nelke


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mit beiden Händen nach Halt, während sie sich umdrehte. Andrea Lyndt sah so aus, wie der Geruch in der Luft vermuten ließ. Ihre Frisur glich einer Ruine, über Nacht gestürmt. Das Haargummi, das den schwarzen Pferde­schwanz festzurren sollte, baumelte irgendwo an seinem Ende, dar­über bauschten sich die Haare wie ein Sack. Ihr Gesicht sah noch schlimmer aus. Tiefe Gräben unter ihren blinzelnden Augen ließen sie zehn Jahre älter aussehen als ihre Ende dreißig. Auf dem Revers ihres marineblauen Blazers klebte Make-Up. Thomas hatte einmal gehört, dass es in China Geschäftsleute gab, die unter der Woche in Pappkartons am Stadtrand schliefen, weil sie sich die Unterkünfte in den Metropolen nicht leisten konnten. Morgens stiegen sie dann in Anzügen heraus und wuschen sich im Fluss die Zähne. Er hasste sich sofort dafür, doch das Bild ging nicht mehr weg.

      Zum zweiten Mal an diesem Morgen sah Thomas sich gemustert.

      »Wären Sie hier, um mich zu töten, hätten Sie es schon getan, hab ich recht«, fiel das lallende Urteil. Andrea Lyndt zog die Nase hoch. »Ach, warum nicht. Sie haben eine Minute.«

      »Ma'am, heute morgen um halb drei—«

      Er stockte, weil Lyndt sich kurz wieder zu ihm umgedreht hatte. Offenbar hatten die hochgezogenen Brauen nicht mit einer Antwort aus der Pistole gerechnet. Vielleicht war es auch das Ma’am. Aber Thomas wusste, was er sagen musste. Er hatte es von seinem Schreibtisch im siebten Stock bis hier hin vorgebetet.

      »Heute morgen um halb drei haben wir einen Anruf aus Madrid registriert. Eine Frau behauptete zu einer Terrorzelle der ETA zu ge­hören, die in Madrid einen Anschlag auf den Weltjugendtag vorbe­reitete. Sie wollte aussteigen. Sie sagte—« Jetzt kam die Schlagzeile. Das Detail, das es rechtfertigte, Fahrstühle zu knacken. »Sie sagte, Drahtzieher der Aktion sei ein gewisser el Viento

      Nachdem Thomas wieder angefangen hatte zu sprechen, war Lyndts Blick durch den Raum gewandert und hatte, was sie suchte, auf der Kante des Schreibtisches gefunden. Müde Hände hatten das Whiskyglas zur Kommode hinübergeschleppt und das Namens­schild auf dem Schreibtisch freigelegt: Andrea F. Lyndt. Mit dem Rü­cken zu ihm hatte Lyndt sich eingeschenkt und das Glas ihre Kehle heruntergespült wie Mundwasser. Als Thomas das el Viento freiließ, spannte sich ihre Wirbelsäule und ließ ihren Kopf in die Höhe schnellen, als lausche sie einem Echo im Wald. Dann kippte sie ein weiteres Glas hinunter. Als sie es absetzte, hatten sich ihre Schultern unter dem Blazer gehoben. Ihr Blick beherrschte plötzlich den Raum, wie eine Löwin ihr Wasserloch. Sie war nicht mehr dieselbe.

      »Wie heißen Sie?«

      »Thomas de Jong, Ma—. Thomas de Jong.«

      »Setzen Sie sich, Thomas.«

      »Ich hab die ganze Nacht gesessen, danke.«

      Auf ihrem Weg zur Tür musterte Lyndt ihn ein zweites Mal. Das Sweatshirt mit dem Aufdruck der University of Chester. Die 50-Euro-Jeans. Die Turnschuhe. Die Kladde schien sie gar nicht zu se­hen. Lyndt öffnete dem Hämmern, das Thomas schon ausgeblendet hatte. Zwei Sätze, dazwischen ein kurzer Protest, und Frau Spirow zog sich an ihren Schreibtisch zurück. Das A stand für Agnes.

      »In welcher Abteilung arbeiten Sie?«, fragte Andrea Lyndt.

      Thomas versuchte gerade herauszufinden, was er mit der Infor­mation anfangen sollte, dass Agnes Spirow ein Anagramm für GROW A PENIS war. Treffend war es nicht; Agnes Spirow schien keinen zu brauchen.

      »Analyst«, antwortete er abwesend. »In der Anrufannahme.«

      »Im Call-Center?« Lyndt war verwirrt.

      Gelogen war es nicht; Thomas hatte lediglich einige Worte weggelassen, die zur Wahrheit gehörten. Ich war Analyst und arbeite jetzt in der Anrufannahme.

      »Ich registriere Anrufe, filtere sie nach relevanten Informationen und vermittle sie entsprechend.«

      »Ach, und diese Information wollten sie persönlich weiterleiten, ja?« Im Gehen zog Lynch den Pferdeschwanz fest und kontrollierte ihren glatten Scheitel mit einer festen Handbewegung. »Vorbei an sämtlichen Sicherheitslücken.«

      Thomas fiel auf, dass Lyndt ihm die Kladde aus der Armbeuge genommen hatte, ohne dass er es gemerkt hatte. Plötzlich fühlte er sich nackt. Was machte er nur den ganzen Tag mit seinen Händen? Am Schreibtisch angekommen beugte Lyndt sich über die Kladde, ohne sich zu setzen. Nachdem sie das Memo einmal gelesen hatte, las sie es wieder. Dann noch einmal. Schließlich hob sie den Blick. Ihre ursprüngliche Frage hatte sie vergessen.

      »Der Anrufer—«

      »Die Anruferin.«

      Lyndt leckte sich die Lippen. Es sah anerkennend aus. »Die An­ruferin hat das so gesagt? Wortwörtlich, so wie es hier steht?« Tho­mas wusste, worauf sie hinauswollte, bevor sie es aussprach. »Ich hoffe, euer Laden hört das hier ab.«

      »Hab es selbst transkribiert.«

      »Wann kam das rein?«

      »Vor einer Stunde.«

      »Und t?«, fragte Lyndt.

      »Hat sie nicht gesagt.« T stand für den vermuteten Zeitpunkt des Anschlags, wusste Thomas. »Die offizielle Eröffnungsmesse mit dem Papst ist am Achtzehnten.«

      Lyndt hob den Kopf. »Das ist morgen. T minus 18 Stunden?«

      »Wohl eher 35 Stunden. Die Messe ist um 17:00 Uhr.«

      Lyndt klappte die Kladde zu. Sie griff nach dem Whiskyglas und bemerkte beim Heben, dass es leer war. Sie setzte sich.

      »Wie viele verdächtige Nachrichten filtern Sie am Tag?«, fragte Andrea Lyndt. »Sie wissen schon. Hohe Dichte an verdächtigen Be­griffen. Authentische Drohungen. Leute, die glauben, irgendwo was Verdächtiges gesehen zu haben. Wie oft? Am Tag?«

      Thomas schluckte, sein Mund war trocken. Irgendwie bekam er das Gefühl, dass es auf Lyndts Fragen eine richtige und eine falsche Antwort gab. Der Wasserhahn tropfte weiter.

      »Einige.«

      »Einige, OK.« Lyndt faltete die Hände, indem sie die Fingerspit­zen aneinanderlegte. »Nur dieses mal, als Sie den Hörer aufgelegt hatten, entschieden Sie danach, einen Fahrstuhl zu knacken. Weil genau das haben Sie getan, hab ich recht? Soweit ich weiß, kommt eine Key-Card mit Dresscode. Also einen Fahrstuhl zu knacken, den internen Alarm lahmzulegen und mich um 4 Uhr morgens in mei­nem Büro aufzuwecken.« Lyndt ließ es wirken. »Warum?«

      Thomas kratzte sich am Kopf. Es gab eine einfache Antwort, war­um scheute er sich dann so sehr, sie auszusprechen? Warum klang es auf einmal so… absurd? Weil es scheißabsurd war!

      »Der Name. El Viento.« Thomas hatte gewusst, dass der Name reichte. Nur nicht, ob er dazu kommen würde, ihn auszusprechen. Danach wusste er, dass er Lyndts Ohr hatte. Nicht so wie beim letzten Mal. »Ich wusste, dass es… dass es wichtig war. Zur Audioaufzeich­nung was es da leider schon zu spät, Lokalisierung ebenfalls.«

      Lyndt murmelte etwas; es klang wie wusste ich, dass es wichtig war. Sie leckte sich die Lippen. Thomas war sich sicher, sie konnte seine Furcht schmecken. Unter ihrem unlesbaren Blick begann er, vor und zurück zu wippen, die Hände hinter dem Rücken verschränkt.

      »Sehen Sie Thomas, was wir hier haben, ist brisant. Sehr sogar. Eigentlich müsste ich schon im Flieger nach Madrid sitzen. Doch ich frage mich noch immer, woher ein Mitarbeiter aus der Anrufannah­me einen streng vertraulichen Decknamen kennt, der nur einem Dutzend Menschen bekannt ist? Von denen ich alle persönlich in­struiert habe. Von denen ich jeden beim zweiten Vornamen kenne.« Der Vorwurf verbreitete sich im Raum. »Wie heißen Sie mit zweitem Vornamen, Thomas?«

      »F-Forbes.«

      Was kannst du dafür, dass die Wahrheit sich bescheuert anhört? Doch Thomas hatte zu lange darauf gewartet wieder hier zu stehen, in ei­nem Büro wie diesem, in dieser Situation. Er hatte immer gewusst, dass eine zweite Chance kommen würde. Es blieb nur die Wahrheit.

      »Ich habe ihn getauft«, antwortete er.

      Lyndts Kopf


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