Das Tor vorm Moor und hinterm Schatz. Norbert Schimmelpfennig

Das Tor vorm Moor und hinterm Schatz - Norbert Schimmelpfennig


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sein?“, fragte Siusannia, während sie ihre schulterlangen, schwarzen Haare, die sie von ihrer Mutter haben musste, vor dem Spiegel auf dem Flur kämmte. Anschließend rückte sie ihr rotes T-Shirt zurecht, das sie über einer engen Jeanshose trug, die ihre dünne Statur sichtbar machte, ebenso wie ihre schmalen, hochhackigen Pantoletten.

      „Wenn du einmal Fotomodell werden willst, musst du doch auch auf deine Körperhaltung achten! Und du bist nun einmal gefährdet, dass etwa dein Kreislauf und später deine Knochen darunter leiden werden, wie der Arzt gesagt hat!“, entgegnete ihre Mutter. „Bestimmt auch dadurch, dass du immer so wenig isst. Im Kurheim werden sie dich hoffentlich aufpäppeln!“

      „Das ganz bestimmt nicht“, widersprach ihre Tochter. „Außerdem gab es auch schon viele dünne Models, zum Beispiel Twiggy! Und so dünn bin ich doch nicht!“

      „Das findest du. Jedenfalls ist es jetzt abgemacht, dass du dorthin fährst, und es wird dir dort gefallen, da bin ich mir sicher!“, antwortete ihre Mutter. „Du wirst auch sehen, wie schön es ist, in flachen Schuhen zu wandern und im Haus in Hausschuhen zu laufen!“

      Da verzog sich Siusannia mit einem bitteren Lächeln ins Bad. Dieses Badezimmer war ein kleiner Raum. Badewanne, Toilette und Waschbecken standen nah beieinander, und die niedrigen Schränke an der gegenüber liegenden Wand ließen nur Platz für eine Person. Über dem Waschbecken hing ein Spiegel, in dem Siusannia nochmals ihre Frisur betrachtete. Dann nahm sie ein Zentimeterband aus einer Schrankschublade und maß ihre Hüften.

      Als sie wieder herauskam, fragte ihre Mutter:

      „Möchtest du nachher Die Biene Maja sehen?“

      „Wie kommst du darauf? Ist doch Kinderkram!“, meinte Siusannia. „Lieber besuche ich jetzt Opa!“

      „Das ist eine gute Idee. Grüß ihn bitte schön von mir! Am Sonntag, oder wenn ich einmal wieder frei habe, komme ich mit, heute habe ich noch zu viel zu tun.“

      Dies bedeutete, dass ihre Mutter den ganzen Abend, bis spät in die Nacht, kellnern musste.

      Als Siusannia auf die Straße trat, atmete sie auf. Opa im Altenheim zu besuchen war immer wieder auch eine Ausrede, aus der engen Wohnung heraus zu kommen. Hier auf der Straße war es zwar laut, aber die Sicht war weit, auf den Himmel wie auch auf das Ortsende, alles roch und fühlte sich nach großer Freiheit an!

      Mit Opa zusammen zu sein, war zwar ebenfalls angenehm, doch ließ sich Siusannia gerne Zeit, um zu bummeln. Als sie noch klein war, hatte ihr Großvater oft mit ihr gespielt, war mit ihr sogar reiten gegangen. Aber dann verschlechterte sich sein Gesundheitszustand, und immer schwerer fiel ihm das Gehen. Seitdem hatte kein Verwandter mehr viel Zeit für sie gehabt.

      Allzu viel gab es in dieser kleinen Stadt zwar nicht zu sehen, aber immerhin ein paar Fachwerkhäuser mit schönen Schaufenstern. Früher hatte sie immer wieder nach neuen Pferdekalendern Ausschau gehalten, wenn sie nicht in Richtung der Weiden in der Umgebung marschiert war. Leider hatte sie das Reiten aufgeben müssen, weil ihre Mutter nicht mehr genug Geld dafür hatte.

      Jetzt aber interessierten sie mehr die Modeschaufenster und die Kataloge; auch ein paar große Poster, mit Models in Bikinis, Kostümen und sonstigen Kleidungsstücken, waren an manchen Flächen angebracht. Dieses Schuljahr noch, dann war sie mit der Schule fertig, konnte sich selbst für solche Fotos bewerben – malte sie sich zumindest aus.

      Bald hörte die dichte Bebauung auf, dafür erstreckte sich neben der Straße eine unbebaute Fläche mit viel Gras und wild wachsendem Unkraut. Und etwa einen Meter neben dem Bürgersteig erhob sich ein Mäuerchen, im Durchschnitt dreißig Zentimeter hoch, aber uneben, wahrscheinlich ein Überbleibsel aus dem Krieg.

      Wenn ihre Mutter nicht dabei war, liebte es Siusannia schon immer, den Bürgersteig zu verlassen, sich die Schuhe auszuziehen und auf dem Mäuerchen entlang zu balancieren. Sie merkte, dass sie darin immer besser wurde.

      In letzter Zeit stellte sie sich zudem dieses Mäuerchen gerne als Laufsteg vor, auf dem sie in der neuesten Mode spazierte, und alle ihre Bekannten und allerhand Unbekannte jubelten ihr dabei zu.

      An diesem Tag waren die Steine nass, was schon länger nicht mehr vorgekommen war – nach langem hatte es hier wieder geregnet.

      Schließlich erreichte sie das Altenheim, ein dreistöckiges Haus mit flachem Dach. An den Fenstern klebten schwarze Adler. Im Inneren verliefen weite Flure, doch kannte sie ihren Weg mittlerweile gut.

      Von ihren Großeltern war nur noch der Vater ihres Vaters am Leben. Ihre Großmütter waren verhältnismäßig früh verstorben, der Vater ihrer Mutter war im Krieg gefallen.

      Sie lief durch die Gänge, bis zu der Tür, an deren Außenseite das Bild eines Mannes mit Ziegenbart, aber auch mit dem Häuptlingsschmuck der Sioux, klebte, der auf ein Pferd steigen wollte. Dieses Bild hatte Siusannia ihrem Großvater in der ersten Klasse gemalt.

      Im Zimmer saß in einem Rollstuhl ein Mann mit einem solchen Ziegenbart, der inzwischen schon weiß geworden war. Beide umarmten sich, sie grüßte ihn von ihrer Mutter, erzählte von der Schule, er vom Essen im Heim:

      „Heute gab es ganz passables Rindfleisch mit Kartoffeln – hätte aber für meinen Geschmack etwas schärfer und besser gesalzen sein können!“

      Etwas lauter fragte er:

      „Hörst du mir überhaupt zu?“

      Siusannia starrte gedankenverloren in eine Fernsehzeitschrift, die aufgeschlagen auf dem Tisch lag, mit der Großaufnahme einer blonden Frau in Jeans.

      Aber jetzt sah sie auf und erwiderte:

      „Ja, du hast gesagt, dass das Fleisch etwas saurer hätte sein können!“

      „Na ja, fast. Wenn du einmal in so einer Zeitschrift abgebildet werden möchtest, musst du dich anstrengen. Auch mehr essen!“

      „Redest du jetzt auch schon so?“

      „Was soll man dazu schon sagen? Genauso ähnlich wie dieses Zimmer wird auch deines in dem Kurheim aussehen“, meinte Opa, und sie fragte:

      „Bist du sicher? Nur dass ich es mit drei anderen Mädchen teilen muss!“ „Das wird dir schon gefallen. Früher haben wir auch so eng beisammen gewohnt. Den Tag über werdet ihr viel draußen sein!“

      „Schon möglich ...“

      „Ich weiß noch ganz genau, wie du früher gern mit mir auf das Dach hier gestiegen bist – nur kann ich das jetzt leider nicht mehr. Aber hoch oben in den Bergen ist es noch viel schöner!“

      „Werde ich dort vielleicht meinen Vater finden?“

      Da runzelte Opa die Stirn und entgegnete:

      „Ich bin sicher, dass er deine Mutter nicht verlassen hat, sondern irgendwo abgestürzt ist – an einer unwegsamen Stelle, wo ihn niemand gefunden hat!“

      „Meine letzte Erinnerung an ihn ist, wie wir an einem Moor standen – seitdem sind wir nie wieder in die Berge gefahren!“

      „Dann wird es mal wieder Zeit, ist so schön dort – und reiten kannst du dort auch gut!“

      „Aber einmal auf einer Gämse statt auf einem Pferd – nur wird nichts davon Teil des Gruppenprogramms sein!“

      Yxick betrat das Wohnzimmer seiner Familie. Dort auf dem Sofa saß bereits seine siebzehnjährige Schwester Floriane, die er immer „Rane“ nannte, und auf zwei Sesseln saßen ihre Mutter und ihr Vater. An den Wänden standen große Regale, voll mit Büchern, und an freien Stellen hingen gerahmte Land- und Seekarten aus früheren Jahrhunderten, jeweils als Faksimile. Auf dem Glastisch vor ihnen lagen ein paar Prospekte mit Fotos von den Bergen.

      Yxick setzte sich mit gekrümmtem Rücken auf das Sofa, so dass sein kariertes Hemd hinten leicht aus der Hose rutschte.

      Seine Schwester hatte rötliche schulterlange Haare und Sommersprossen und war noch eher vollschlank. Sie schminkte sich schon leicht und kleidete sich in Jeans und ein orangefarbenes T-Shirt, das ihren Busen schon


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