Kindheit. Лев Толстой
fügte er nach einer kleinen Pause hinzu, wobei er Papa vielsagend ansah.
»Wieso?«
»Also belieben Sie zu sehen: was die Mühle betrifft, so war der Müller schon zweimal bei mir, um einen Aufschub zu erbitten, und schwor bei Christus dem Herrn, daß er kein Geld habe. Er ist übrigens auch jetzt hier; vielleicht belieben Sie selbst mit ihm zu sprechen?«
»Was sagt er denn?« fragte Papa, indem er durch eine Bewegung mit dem Kopfe andeutete, daß er nicht mit dem Müller sprechen wolle.
»Ach, man kennt das ja! Er sagt, er habe nichts zu mahlen gehabt, und was er an Geld besessen, habe er im Damme verbaut. Und, gnädiger Herr, wenn wir ihm kündigen, – ob wir dabei auf unsere Rechnung kommen? – Dann beliebten Sie von den Kautionsgeldern zu sprechen; mir scheint, ich habe Ihnen schon einmal gemeldet, daß unser Geldchen dort festsitzt und daß wir's wohl nicht sobald bekommen werden. Ich hab' neulich wegen dieser Angelegenheit eine Fuhre Mehl und einen Brief zu Iwan Afanassitsch in die Stadt geschickt: er antwortet halt wieder, daß er sich gern für Peter Alexandrowitsch bemühen würde, die Sache liege aber nicht in seiner Hand und allem Anschein nach werde Ihre Quittung auch nach zwei Monaten noch schwerlich herauszubekommen sein. – Sie beliebten auch vom Heu zu sprechen. Angenommen, wir verkaufen es wirklich für dreitausend ...«
Er notierte auf dem Rechenbrett drei Tausender, schwieg einen Augenblick und schaute bald auf das Rechenbrett, bald auf Papa, mit einem Gesichtsausdruck, als wollte er sagen: »Sie sehen selbst, wie wenig das ist. Und auch bei dem Heu werden wir uns wieder verrechnen, wenn wir's jetzt verkaufen sollen, Sie wissen ja selbst –«
Man sah ihm an, daß er noch einen großen Vorrat an Widerlegungsgründen bereit hatte; daher wohl unterbrach Papa ihn:
»Ich werde meine Anordnungen nicht ändern«, sagte er, »wenn sich aber dem Einkassieren dieser Gelder wirklich Hindernisse in den Weg stellen, dann – nichts zu machen – nimmst du von dem Chabarowskischen Gelde soviel als nötig ist.«
»Zu Befehl.«
Dem Gesicht wie den Fingern Jakobs merkte man es an, daß die letzte Weisung ihm großes Vergnügen bereitete.
Jakob war Leibeigener, ein sehr eifriger und ergebener Mensch; wie alle guten Verwalter war er äußerst geizig für seinen Herrn und hatte von den herrschaftlichen Vorteilen die sonderbarsten Begriffe. Er sorgte beständig für die Vermehrung des Eigentums seines Herrn auf Kosten des Eigentums der Herrin, indem er sich bemühte zu beweisen, daß alle Einnahmen von ihrem Gute auf Petrowskoje (das Gut, auf dem wir lebten) verwendet werden müßten. Jetzt triumphierte er, weil ihm das so vollständig gelungen war.
Als Papa uns begrüßt hatte, sagte er, wir hätten nun lange genug auf dem Lande gefaulenzt, wir seien keine kleinen Kinder mehr, und es sei Zeit, daß wir ernstlich zu lernen anfingen.
»Ihr wißt schon, glaube ich, daß ich heute nacht nach Moskau reise und euch mitnehme«, sagte er. »Wir werden bei Großmama leben, und Maman bleibt mit den Mädchen hier. Und merkt euch, ihr einziger Trost wird es sein, zu hören, daß ihr gut lernt und daß man mit euch zufrieden ist.«
Obgleich wir nach all den Vorbereitungen, welche seit einigen Tagen bemerkbar waren, schon irgend etwas Außergewöhnliches erwartet hatten, erschütterte uns diese Neuigkeit sehr. Wolodja wurde rot und richtete mit zitternder Stimme Mütterchens Auftrag aus.
»Das also hat mein Traum mir verkündet!« dachte ich; »gebe Gott, daß nicht noch etwas Schlimmeres komme!«
Um Mütterchen tat es mir sehr, sehr leid, zugleich aber freute mich der Gedanke, daß wir nun groß geworden seien.
»Wenn wir heute reisen, so werden wir wahrscheinlich keine Stunden haben, das ist herrlich!« dachte ich. »Übrigens tut mir Karl Iwanowitsch leid. Er wird wahrscheinlich verabschiedet werden, denn sonst hätte man nicht jenes Kuvert für ihn vorbereitet ... Lieber doch mein Leben lang lernen und nicht fort müssen, sich nicht von Mütterchen trennen und den armen Karl Iwanowitsch nicht kränken! Er ist ja ohnedies sehr unglücklich.«
Solche Gedanken zogen mir blitzartig durch den Sinn; ich rührte mich nicht von der Stelle und starrte die schwarzen Schleifen meiner Schuhe an.
Nachdem Papa mit Karl Iwanowitsch ein paar Worte über das Sinken des Barometers gesprochen hatte, befahl er Jakob, die Hunde nicht zu füttern, da er am Nachmittage zum Abschied auf die Jagd fahren und die jungen Jagdhunde ausprobieren wollte, und schickte uns dann ganz gegen meine Erwartung ins Schulzimmer, tröstete uns jedoch mit dem Versprechen, uns auf die Jagd mitzunehmen.
Auf dem Wege in den oberen Stock lief ich schnell auf die Terrasse hinaus. An der Tür in der Sonne lag Milka, der Lieblingswindhund meines Vaters.
»Milotschka«, sagte ich, indem ich ihn streichelte und auf die Schnauze küßte, »wir fahren heute fort! Lebewohl, wir werden uns nie wiedersehen!«
Ich gab mich ganz meinen Gefühlen hin und fing zu weinen an.
Der Unterricht
Ins Zimmer trat ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit blassem, pockennarbigem, länglichem Gesicht, langen grauen Haaren und einem dünnen, rötlichen Barte. Er war so groß, daß er, um durch die Tür zu kommen, nicht nur den Kopf beugen, sondern seinen ganzen Körper zusammenbiegen mußte. Er war in ein zerfetztes Gewand gehüllt, das teils einem Bauernrock, teils einem Priesterkleid glich; in der Hand trug er einen riesigen Stab. Ins Zimmer tretend, klopfte er mit diesem Stab aus Leibeskräften auf den Fußboden, wobei er die Augenbrauen zusammenzog, den Mund übermäßig weit aufsperrte und in ein schreckliches, unnatürliches Lachen ausbrach. Auf einem Auge war er blind, und die weiße Pupille dieses Auges rollte unaufhörlich hin und her und verlieh dem ohnedies häßlichen Gesichte einen noch garstigeren Ausdruck.
»Aha, erwischt?« schrie er, mit kurzen Schritten auf Wolodja zueilend, den er beim Kopfe packte, um sorgfältig seinen Scheitel zu betrachten; dann ging er mit ganz ernster Miene von Wolodja fort, trat an den Tisch und begann, unter das Wachstuch zu blasen und das Kreuzeszeichen darüber zu machen.
»Ooo schade! ooo, tut weh! – Die Lieben werden davonfliegen!« sprach er sodann mit von Tränen zitternder Stimme, indem er Wolodja voller Herzeleid anblickte, und mit dem Ärmel die tatsächlich fallenden Tränen trocknete.
Seine Stimme war rau und heiser, seine Bewegungen waren hastig und unregelmäßig, seine Worte sinnlos und ohne Zusammenhang (er gebrauchte niemals ein Fürwort), aber die Betonung war so rührend, und das gelbe, mißgestaltete Gesicht nahm zuweilen einen so aufrichtig betrübten Ausdruck an, daß man sich beim Zuhören eines gewissen, aus Mitleid, Angst und Traurigkeit zusammengesetzten Gefühles nicht erwehren konnte.
Das war der unstet umherirrende Grischa.
Woher stammte er? wer waren seine Eltern? was hatte ihn veranlaßt, das Wanderleben, das er führte, zu erwählen? – Das wußte niemand. Ich weiß nur, daß er von seinem fünfzehnten Lebensjahre an als Narr bekannt war, der Sommer und Winter barfuß ging, die Klöster besuchte und Leuten, die er lieb gewann, kleine Heiligenbilder schenkte; daß er rätselhafte Worte sprach, welche von manchen als Weissagungen aufgefaßt wurden; daß ihn niemand je anders gekannt hatte, als er jetzt war; daß er zuweilen zu meiner Großmutter kam und daß die einen von ihm sagten, er sei der unglückliche Sohn reicher Eltern und eine unschuldsvolle Seele, und andere, er sei nichts als ein Bauer und Faulenzer.
Endlich erschien der langersehnte und pünktliche Foka, und wir gingen hinunter. Grischa folgte uns schluchzend, ohne mit seinen unsinnigen Reden aufzuhören, und stieß mit dem Stab auf die Stufen der Treppe. – Papa und Maman schritten Arm in Arm im Salon auf und nieder und sprachen miteinander. Maria Iwanowna saß würdevoll in einem Lehnstuhl, der symmetrisch in rechtem Winkel an den Diwan gerückt war, und gab den neben ihr sitzenden Mädchen mit strenger, aber gedämpfter Stimme gute Lehren. Als Karl Iwanowitsch ins Zimmer trat, blickte sie sich nach ihm um, wandte sich aber sofort wieder ab, und ihr Gesicht nahm einen Ausdruck an, den man ungefähr deuten konnte: »Ich bemerke Sie nicht, Karl Iwanowitsch!« Den Mädchen sah man's an den Augen an, daß sie sich danach sehnten, uns