Sewastopoler Erzählungen. Лев Толстой
und der Hingabe an die Gegenwart.
Vielleicht begegnet ihr dem aus der Kirche kommenden Leichenzuge irgend eines Offiziers, mit rosafarbenem Sarge, Musik und wehenden Fahnen; vielleicht dringen die Töne der Kanonade auf der Bastion an euer Ohr, aber das bringt euch nicht wieder auf die früheren Ideen; der Leichenzug erscheint euch nur als ein sehr schönes militärisches Schauspiel, die Kanonade als sehr schönes Kriegsgetöse, doch ihr verknüpft weder mit diesem Schauspiel noch mit diesen Tönen den klaren, auf euch selbst angewandten Gedanken von Tod und Leiden, wie ihr das am Verbandorte getan.
An der Kirche und der Barrikade vorbei gelangt ihr in den belebtesten Teil der Stadt. Auf beiden Seiten hängen Schilder von Verkaufsläden und Restaurants. Kaufleute, Frauen in Hüten oder mit Kopftüchern, stutzerhafte Offiziere – alles verrät die Standhaftigkeit, das Selbstvertrauen und die Sicherheit der Bewohner.
Wenn ihr die Gespräche der Seeleute und Offiziere anhören wollt, so tretet in das Gasthaus rechts: dort wird ganz gewiß schon von der verflossenen Nacht, von Fenjka, vom vierundzwanzigsten gesprochen, aber auch davon, wie teuer und schlecht die Koteletts hier sind, und davon, daß dieser und jener Kamerad gefallen ist.
»Hol's der Teufel, wie arg es heute bei uns ist!« sagt mit Bassstimme ein hochblonder, bartloser Marineoffizier, der einen grünen, gestrickten Schal trägt.
»Wo ist das – bei uns?« fragt ein anderer.
»Auf der vierten Bastion,« erwidert der junge Offizier, und ihr betrachtet ihn bei den Worten »auf der vierten Bastion« unbedingt mit größerer Aufmerksamkeit und selbst mit einiger Hochachtung. Seine allzu große Ungeniertheit, das Herumfuchteln mit den Händen, das laute Sprechen und Lachen, all das, was ihr zuerst für Keckheit hieltet, erscheint euch nun als Ausdruck der besonderen prahlerischen Stimmung, die manche junge Leute nach bestandener Gefahr überkommt; immerhin denkt ihr, er werde euch nun erzählen, daß es wegen der Bomben und Kugeln auf der vierten Bastion arg ist, – weit gefehlt! Arg ist es, weil es schmutzig ist.
»Man kann nicht bis zur Batterie,« sagt er, auf seine Stiefel weisend, die bis über die Waden mit Schmutz bedeckt sind. – »Und mir haben sie heut' den besten Konstabelsmaat getötet, grad in die Stirn hat's ihn getroffen,« sagt ein anderer. – »Wen? Mitjuchin?« – »Nein ... Aber was ist denn, wird man mir endlich den Kalbsbraten bringen? Solche Kanaillen!« fügt er, zum Kellner gewandt, hinzu. »Nicht Mitjuchin, sondern Abramow. So ein tüchtiger Kerl, – war bei sechs Ausfällen.«
An der andern Ecke des Tisches sitzen bei Koteletts mit Erbsen und einer Flasche sauren roten Krimer Weines, Bordeaux genannt, zwei Infanterieoffiziere: der eine, ein junger Mann mit rotem Kragen und zwei Sternchen auf dem Mantel, erzählt dem andern, der einen schwarzen Kragen und keinen Stern hat, von der Schlacht an der Alma. Er hat schon etwas zu viel getrunken, und an den Pausen in seiner Erzählung, an seinem unsicheren Blick, der daran zu zweifeln scheint, daß dieser Erzählung Glauben geschenkt wird, vor allem aber an der allzu großen Rolle, die er selbst bei alledem gespielt haben will, und an den übertriebenen Schrecknissen in der Schilderung merkt man, daß er von der strengen Wahrheit stark abweicht. Aber euch liegt nichts an diesen Erzählungen, die ihr noch lange an allen Enden Russlands zu hören bekommen werdet: ihr wollt so schnell als möglich auf die Bastion gelangen, und zwar grade auf die vierte, von der man euch schon so viel und so verschiedenes berichtet hat. Wenn jemand sagt, er sei auf der vierten Bastion gewesen, so sagt er das mit besonderer Befriedigung und mit Stolz; wenn jemand sagt: ich gehe auf die vierte Bastion, so bemerkt man an ihm ganz gewiß entweder eine kleine Erregtheit oder zu große Gleichgültigkeit; wenn man jemand necken will, so sagt man: dich soll man auf die vierte Bastion schicken; wenn man Tragbahren begegnet und fragt: woher? erhält man in den meisten Fällen die Antwort: von der vierten Bastion. Im allgemeinen existieren zwei völlig entgegengesetzte Meinungen über diese schreckliche Bastion: die Meinung derer, die nie dort waren und überzeugt sind, daß die vierte Bastion das sichere Grab für jeden ist, der hingeht, und die Meinung derer, die dort hausen, wie der hochblonde Schiffsfähnrich, und die, wenn sie von der vierten Bastion sprechen, nur sagen, ob's dort trocken oder schmutzig, ob's in der Erdhütte warm oder kalt ist und dergleichen.
Während der halben Stunde, die ihr im Gasthause verbracht habt, hat sich das Wetter geändert: der Nebel, der auf dem Meere lag, hat sich zu grauen, langweiligen, nassen Wolken geballt und verdeckt die Sonne; ein trübseliger Reif fällt von oben und macht Dächer, Trottoirs und Soldatenmäntel feucht.
Nachdem ihr eine zweite Barrikade passiert habt, wendet ihr euch durch das Tor rechts einer breiten, ansteigenden Straße zu. Hinter dieser Barrikade sind die Häuser zu beiden Seiten der Straße unbewohnt, die Aushängeschilder fehlen, die Türen sind mit Brettern vernagelt, die Fenster eingeschlagen, hier fehlt ein Stück der Mauer, dort ist ein Dach zertrümmert. Die Gebäude gleichen alten Veteranen, die Kummer und Not jeder Art durchgemacht haben, und scheinen stolz und verächtlich auf euch herabzusehen. Ihr stolpert unterwegs über umherliegende Kanonenkugeln und über wassergefüllte Gruben, welche die Bomben im Steinboden aufgewühlt haben. Auf der Straße begegnet oder überholt ihr Gruppen von Soldaten, Kosaken, Offizieren, hier und da wohl auch eine Frau mit einem Kinde, die aber keine Dame im Hut ist, sondern ein Matrosenweib in altem Pelz und Soldatenstiefeln. Die Straße weiter verfolgend und einen kleinen Bergabhang hinabschreitend, findet ihr euch nicht mehr von Häusern umgeben, sondern von seltsamen Trümmerhaufen: Steinen, Brettern, Lehm, Balken; vor euch auf dem steilen Berge seht ihr eine schwarze, schmutzige, von Gräben durchzogene Fläche, – das eben ist die vierte Bastion ... Hier begegnet ihr noch weniger Menschen; Frauen sieht man überhaupt nicht, die Soldaten gehen schnell, auf dem Wege bemerkt ihr hier und da Blutstropfen, und unfehlbar kommen euch vier Soldaten mit einer Tragbahre entgegen, auf der ihr ein gelblichblasses Antlitz und einen blutigen Soldatenmantel seht. Wenn ihr fragt: »Wo ist er verwundet?« antworten die Träger ärgerlich, ohne sich nach euch umzuwenden: »Am Bein,« oder: »Am Arm,« wenn der Kranke leicht verwundet ist, oder aber sie schweigen ernst, wenn auf der Tragbahre kein Kopf sichtbar und der Unglückliche schon tot oder schwer verletzt ist.
Das nahe Pfeifen einer Kanonenkugel oder einer Bombe überrascht euch unangenehm, grade als ihr den Berg zu ersteigen beginnt. Ihr versteht plötzlich, und zwar ganz anders, als ihr sie vorher verstanden habt, die Bedeutung der Detonationen, die ihr in der Stadt hörtet. Irgend eine stille, schöne Erinnerung leuchtet plötzlich in euren Gedanken auf, eure eigene Persönlichkeit beschäftigt euch mit einem Male mehr als das, was ihr ringsumher beobachtet, eure Aufmerksamkeit für die Umgebung nimmt ab und ein gewisses unangenehmes Gefühl der Unentschlossenheit bemächtigt sich eurer. Ungeachtet dieser kleinlichen Stimme, die beim Anblick der Gefahr plötzlich in euch laut wird, richtet ihr – besonders als ihr den Soldaten seht, der eben, mit den Händen fuchtelnd und auf dem schlammigen Schmutz ausgleitend, im Trabe lachend an euch vorüberläuft – euch stolz auf, hebt den Kopf höher und beginnt, den schlüpfrigen, lehmigen Berg zu erklimmen. Ihr seid kaum ein wenig bergauf geklettert, als rechts und links um euch die Flintenkugeln pfeifen; ihr überlegt vielleicht einen Augenblick, ob es nicht ratsamer wäre, im Laufgraben zu gehen, der mit dem Wege parallel läuft; aber dieser Graben ist so mit einem flüssigen, gelben, stinkenden, bis über die Knie reichenden Kot angefüllt, daß ihr sicherlich den Weg auf dem Berge wählen werdet, um so mehr als ihr seht, daß alle ihn gehen. Etwa zweihundert Schritt weiter kommt ihr zu einer aufgewühlten, schmutzigen Fläche, die von allen Seiten von Schanzkörben, Erdwällen, Pulverkellern, Plattformen, Erdhütten umgeben ist; obenauf stehen große, gußeiserne Geschütze und liegen in regelmäßig aufgeschichteten Haufen Kanonenkugeln. Alles dies scheint euch ohne jeden Zweck, ohne Sinn und Ordnung aufgetürmt zu sein. Hier auf der Batterie sitzt eine Gruppe von Matrosen, dort inmitten des Platzes liegt, halb im Schmutz versunken, eine zertrümmerte Kanone, da geht ein Infanterist mit einem Gewehr über die Batterien und zieht mühsam seine Füße aus dem klebrigen Schmutze. Aber überall, von allen Seiten und von jedem Standorte aus, seht ihr Trümmer, nichtgeplatzte Bomben, Kanonenkugeln, Spuren des Lagerlebens, alles halb versenkt in dem flüssigen, klebrigen Schmutze. In eurer Nähe – so scheint es euch – hört ihr eine Kanonenkugel aufschlagen; von allen Seiten ertönen die verschiedenen Laute der Flintenkugeln, die wie Bienen summen, schnell vorüberpfeifen oder wie Darmsaiten brummen; ihr vernehmt den fürchterlichen Lärm der Geschütze, der euch erschüttert und euch wie etwas ganz besonders