Auferstehung. Лев Толстой
dachte Nechljudow bei sich, erhob sich und drückte die ringgeschmückte, durchsichtige, knochige Hand Sofia Wassiljewnas.
Im Vorzimmer begegnete ihm Jekaterina Alexejewna und begann sogleich auf ihn loszureden:
»Ich sehe, daß die Pflichten eines Geschworenen auf Sie doch recht niederdrückend wirken,« sagte die Slawophilin, wie immer auf französisch.
»Ja, verzeihen Sie, ich bin heute nicht bei Laune und möchte den andern die Stimmung nicht verderben,« antwortete Nechljudow, seinen Hut suchend.
»Warum sind Sie nicht bei Laune?«
»Gestatten Sie mir, darüber zu schweigen,« sagte er.
»Aber wissen Sie nicht mehr, wie Sie selbst einmal sagten, man müsse immer bei der Wahrheit bleiben, und wie Sie damals uns allen so schreckliche Wahrheiten sagten? Warum wollen Sie nun nicht reden? Erinnerst du dich noch, Missi?« wandte sich Jekaterina Alexejewna zu Missi, die eben ins Zimmer trat.
»Das war doch nur im Spiel,« antwortete Nechljudow ernst. »Im Spiel kann man so etwas tun, in der Wirklichkeit aber sind wir so schlecht – das heißt: ich bin so schlecht, daß ich wenigstens die Wahrheit nicht sage.«
»Verbessern Sie sich nicht, sagen Sie lieber, worin wir denn so schlecht sind!« sagte Jekaterina Alexejewna, die sich im Spiel mit Worten gefiel und Nechljudows Ernst nicht zu bemerken schien.
»Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn man bekennen muß, daß man nicht bei Laune ist,« meinte Missi. »Ich gestehe mir das nie ein, und darum bin ich auch stets bei Laune. Nun, kommen Sie mit in mein Zimmer, wir wollen uns bemühen, Ihren schlechten Humor zu zerstreuen.«
Nechljudow hatte die Empfindung, die ein Pferd haben mag, wenn man es streichelt, um ihm den Zaum anzulegen und es vor den Wagen zu spannen. Er hatte jedoch heute weniger denn je die Neigung, das Zugtier zu spielen. Er entschuldigte sich, er müsse nach Hause, und begann sich zu verabschieden. Missi hielt seine Hand länger als sonst fest.
»Vergessen Sie nicht, daß alles, was für Sie von Wichtigkeit ist, es auch für Ihre Freunde ist,« sagte sie. »Werden Sie morgen kommen?«
»Kaum,« sagte Nechljudow und errötete vor Scham – ob um seiner selbst oder um ihretwillen, wußte er nicht zu sagen. Dann ging er rasch hinaus.
»Was ist das? Er gibt uns Rätsel auf!« sagte Jekaterina Alexejewna, als Nechljudow hinausgegangen war. »Doch ich werde es schon herausbekommen. Irgendeine Ehrensache wohl: er ist sehr empfindlich, unser guter Mitja.«
»Es scheint mir vielmehr eine Hetärensache,« wollte Missi sagen, die jetzt mit erloschenem Blick und mit ganz anderer Miene dreinschaute, als jene war, mit der sie vorher Nechljudow angesehen hatte. Sie hatte es vorgezogen, das Wortspiel, das gegen den guten Ton verstoßen hätte, für sich zu behalten und sagte nur:
»Es hat eben jeder von uns seine guten und seine schlechten Tage.«
»Ob auch der mich hinters Licht führen wird?« dachte sie. »Nach allem, was gewesen, wäre das sehr schlecht von ihm.«
Wenn Missi hätte erklären sollen, was sie mit den Worten »nach allem, was gewesen« sagen wollte, dann hätte sie durchaus nichts Bestimmtes sagen können; gleichwohl hatte sie die deutliche Empfindung, daß er nicht nur Hoffnungen in ihr erregt, sondern ihr fast ein Versprechen gegeben hatte. Freilich waren es keine bestimmten Worte gewesen, sondern nur Blicke und Anspielungen, ein häufiges Lächeln, ein Verschweigen. Aber sie betrachtete ihn gleichwohl als den Ihrigen, und es wäre ihr sehr schwer gefallen, ihn zu verlieren.
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