Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag. Gerhard Ebert

Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag - Gerhard Ebert


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Abwechslung zu verschaffen. Er war auf die Idee gekommen, für die sogenannte Kreisseite der Provinzzeitung kleine Artikel zu schreiben. Auf der alten Büroschreibmaschine, die ihm seine Tante Else geschenkt hatte, machte er Belanglosigkeiten des Alltags zu Nachrichten. Der zuständige Redakteur, ein junger ehrgeiziger Mann, der im Krieg ein Bein verloren hatte und nun an seiner Karriere baute, war froh, einen offenbar ebenfalls ehrgeizigen jungen Burschen gefunden zu haben, der ihm ein wenig zuarbeitete, ja sich sogar erkühnte, hin und wieder über das neue Stadttheater und dessen Ensemble zu schreiben, zum Beispiel wer da neu engagiert war oder wer die Stadt verließ. Einigen Ärger freilich hatte ein Interview eingebracht, das er mit dem Chef des städtischen Elektrizitätswerkes gemacht und in dem er von einer Sperrzeit auch mittags geschrieben hatte, obwohl im Gespräch nur von abends und vormittags die Rede gewesen war. Uwe konnte sich den Lapsus nicht erklären, und es hatte sowohl in der Redaktion als auch im E-Werk zornige und aufgeregte Anrufe gegeben.

      Die gelegentliche journalistische Aktivität hatte Uwe selbstbewusster gemacht und dazu geführt, dass er auch an eine Berliner Jugend-Zeitung Leserbriefe schrieb, und zwar an die Zeitschrift „Start“. Das war ein Blatt, das, wie schon der Name sagte, der jungen Generation den Start ins Leben, insbesondere in die sich wandelnde Gesellschaft erleichtern wollte. Uwe bewegte damals sehr, was die Menschen tun könnten, um neue verheerende Kriege zu verhindern. Dabei gab es einen Punkt, der ihn besonders berührte.

      Wieso hatte sein Cousin Gottfried in den Krieg und prompt in den Tod ziehen müssen? Gut, er war zwei Jahre älter als Uwe gewesen, insofern also sozusagen an der Reihe. Aber war das wirklich nur eine Frage des Alters? Schließlich hätte es auch Uwe treffen können, nämlich eine Bombe, selbst in der Heimat. Hatte Gott seine Hand im Spiel? Hatte der den Cousin ausgewählt und ihn, den Jüngeren, laufen lassen? Für Kriege waren doch wohl Menschen verantwortlich. Wahrscheinlich wirklich insbesondere die Rüstungsfabrikanten, beispielsweise auch die deutschen, wie jetzt überall behauptet wurde.

      Offenbar hatte Uwe in seinem Leserbrief so anregend „philosophiert“, dass ein junger Mann reagierte. Lothar B., wohnhaft in der "Heimat" in Berlin-Zehlendorf, fand Uwes Gedanken sogar so bedenkenswert, dass er ihn einlud, ihn doch einmal zu besuchen. Bei ihm, Lothar, träfen sich regelmäßig junge Leute, um über Lebensprobleme dieser Welt zu debattieren, und da würden sie sich gern einmal anhören, was Uwe so denke.

      Solch unvermuteter Zuspruch von unbekannter, ferner Seite ehrte Uwe natürlich sehr. Abgesehen davon, dass ein Besuch in Berlin ohnehin sehr reizvoll zu werden versprach. Allerdings waren die Zeiten für solch abenteuerliche Unternehmung noch immer nicht die günstigsten. Die Züge, erzählte man sich, waren meist überfüllt, und das von verhungerten, abgerissenen Leuten, die es im Krieg sonst wohin verschlagen hatte und die nun versuchten, wieder in ihre Heimat zu gelangen.

      Überdies hatten die Glauchauer lange genug unmittelbar erlebt, wie die Grenzlinie zwischen dem Teil Deutschlands, der von den Amerikanern, und dem, der von den Russen besetzt worden war, zum unüberwindbaren Hindernis werden konnte. Wochenlang war die Zwickauer Mulde, die durch Glauchau fließt, eine total geschlossene Grenze gewesen. Uwes Onkel Max, der westseits wohnte, also bei den Amerikanern, war einfach nicht zu erreichen. Wobei sich Uwe zugab, dass er nie wirklich versucht hatte, den Onkel zu besuchen. Die Sache war ihm einfach zu gefährlich gewesen. Was hätte werden sollen, wenn er zwar rübergekommen, aber nicht zurückgelassen worden wäre! Nachdem dann die Russen auch Thüringen besetzt hatten, war das Problem zwar aus der Welt, aber es war, wie sich alsbald zeigte, nur rund zweihundert Kilometer westwärts verlagert worden.

      Was Berlin betrifft, so war da keine Grenze zwischen, also durchaus mit der Bahn hinzukommen. Die Züge aus Leipzig endeten im Lehrter Bahnhof. Von da war, wie Lothar schrieb, Zehlendorf ohne Mühe mit der S-Bahn zu erreichen. Wegen der Unterbringung sollte er sich keine Sorgen machen, denn das könnte im Hause der Eltern von Lothar ohne weiteres geschehen. Und was die Verpflegung betraf, so sei das in Westberlin zwar kompliziert wie überall, aber hungern müsste Uwe gewiss nicht.

      So brach Uwe denn eines Tages auf. Seine Eltern ließen ihn ziehen, obwohl er noch nicht volljährig war. Er hatte ihnen das nicht besonders bewusst gemacht. Es war ihm selbst wohl nicht so ganz als Problem helle. Schließlich war Frieden in Deutschland, also durften grundsätzlich nur gute Dinge geschehen. Uwe nutzte ein paar Ferientage und fuhr unbeschwert los, neugierig auf alles, was zu sehen und zu erleben sein würde.

      Der Zug zuckelte und zuckelte dahin. In Leipzig waren die Gleise und die Bahnsteige notdürftig funktionsfähig gemacht, ansonsten ringsum Trümmer und Tristheit. Ungewollt musste Uwe an seine Reise mit Opa nach Bremen denken. Welch Trubel damals auf diesem Großstadt-Bahnhof! Bunte Reklame überall, jetzt rundum unübersehbar nur Spuren des verheerenden Krieges. Zerborstene Eisenträger zeugten von ehemaliger Pracht, kein Dach mehr über dem Kopf. Alles kaputt. Allein dieser Bahnhof war Anlass genug, über Sinn und Unsinn eines Krieges nachzudenken.

      Schier endlos dann die Fahrt nach Berlin. Und der Lehrter Bahnhof! Auch eigentlich nur noch ein Trümmerhaufen, aber beräumt immerhin inzwischen für Züge und Passagiere. Und neue Probleme! Neben Uwe mokierte sich ein vornehmer Herr darüber, dass auch Rotarmisten aus dem Zug ausstiegen. Die hätten hier nichts zu suchen, sagte er. Was Uwe bewusst machte, dass er, aus der „Ostzone“ kommend, im amerikanischen Sektor angelangt war. Sein grauer, extra neu gepresster Filzhut, den er Lothar als Erkennungszeichen angegeben hatte, war offenbar selbst hier unübersehbar. Jedenfalls sprach Uwe alsbald ein ansehnlicher junger Mann an, der sich als Lothar B. zu erkennen gab. Damit war gesichert, dass Uwe in der fremden großen Stadt nicht verloren gehen würde. Sie stiegen hinauf zum S-Bahn-Steig und nahmen einen Zug in Richtung Zehlendorf.

      Dort angekommen fiel Uwe sofort auf, wie schön sauber die Straßen waren und so gut erhalten, als habe es keinen Krieg gegeben. Ziemlich schmuck die Häuser, an denen sie entlang gingen. Das kleine Haus, in dem Lothar bei seinen Eltern wohnte, hatte den Krieg gut überstanden. Uwe wurde freundlich aufgenommen und bekam erst einmal ein Essen vorgesetzt: Pellkartoffeln mit Quark. Danach zeigte ihm Lothar das Zimmerchen, in dem er schlafen konnte. Alles bestens!

      Großes Hallo dann beim ersten Treff mit Lothars Gruppe. Da kamen Siegfried M., ein älterer Freund von ihm, und Christa S., seine junge Freundin. Das war es denn auch schon. Was Uwe durchaus ein bisschen irritierte. Unter "Gruppe" hatte er schon paar mehr Leute verstanden. Nun gut! Irgendwoher hatten die drei zur Begrüßung ein, zwei Flaschen Wein aufgetrieben. Als Besäufnis war die Zusammenkunft zwar nicht gedacht, aber der Wein löste die Zungen, und es entspann sich alsbald eine rege Unterhaltung. Uwe sollte ihnen aus der "Zone" berichten, sie erzählten von der in Sektoren aufgeteilten Stadt Berlin.

      Schnell waren sie sich einig: Besatzung ist Scheiße! Niemand wagte zu prophezeien, wie lange die wohl noch anhalten würde. Und die Deutschen? Ein elendes Volk! Den Hitler, darin waren sie sich ebenfalls schnell einig, hätten sich die Deutschen nicht aufschwätzen lassen sollen. Doch nun wo hinaus? Uwes neue Freunde erklärten vor allem eine geistige Reinigung und Erneuerung für das Wichtigste. Zur Mitternacht war sonnenklar: Nur Ehrlichkeit, absolute Ehrlichkeit konnte die Deutschen retten und auch wieder voranbringen.

      Vom Wein mobilisiert erwogen die jungen Leute, eine entsprechende "Wahrheits"-Partei zu gründen. Über das wie, befanden sie betütert, wollten sie erst am nächsten Tag nachdenken. Auf Anhieb, so meinten sie zufrieden, hätten sie eine Menge bewegt. Es kam jetzt wirklich nur noch darauf an, die richtigen Schritte zu tun, um die Partei in ganz Deutschland publik zu machen. Da ihr Gründungs-Grundsatz mehr als einleuchtend war, rechneten sie optimistisch mit einer baldigen landesweiten Ausbreitung. In ausgesprochener Hochstimmung verabschiedeten sie sich um Mitternacht voneinander. Uwe ging in sein Kämmerlein und träumte, noch lange hellwach, von großen Zeiten, die da kommen würden.

      Am nächsten Morgen während des Frühstücks eröffnete Lothar dem Uwe, dass er für den Abend Eintrittskarten für das Hebbel-Theater habe, wo man Sartres "Fliegen" gebe mit der prominenten Joana Maria Gorvin. Lothar wusste von Uwes Interesse für Theater, es war wirklich ausgesprochen lieb von ihm, so für ihn zu sorgen. Uwe bedankte sich denn auch artig für diesen Einfall. Im Verlaufe des Tages, den sie mit einem Spaziergang zwischen den Villen Zehlendorfs ausfüllten, sah sich Uwe von seinem neuen, noch immer eigentlich fremden Freund immer wieder in Debatten zum Theater verwickelt, denen er nicht gewachsen war, weil


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