Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag. Gerhard Ebert

Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag - Gerhard Ebert


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war, sah sie darin eine willkommene Abwechslung. Geklärt werden musste, für welches Stück sie sich entscheiden sollten, für das dann auch eine entsprechende Bühne geplant und gebaut werden musste. Für Handpuppen wäre das kein besonderes Problem gewesen. Aber Marionetten müssen von oben geführt werden, weil sie ja an Fäden hängen; was wiederum bedeutet, dass der Puppenführer ziemlich hoch stehen muss, wenn für Zuschauer eine günstige Sicht bestehen soll.

      Vater riet, eine passende Bühne auf dem Hof zu bauen. Aber Uwe und auch Tante war das nicht so recht, denn die ganze Einrichtung gegen den Regen zu schützen, würde sehr aufwendig sein. Obwohl noch Fragen offen waren, begann Uwe schon mal mit dem Bau der ersten Puppe. Solch Gestell am Fadenkreuz konnte gebastelt werden, noch bevor feststand, als welche Figur es dann fungieren sollte. Zugleich bestellte Uwe bei einem Verlag ein Sortiment von Puppenspielen.

      Als die Texte eintrafen und gelesen waren, setzte sich Tante Betty lebhaft für "Doktor Faustus" ein. Dagegen war wirklich nichts einzuwenden, außer, dass ihre Unternehmung höchst anspruchsvoll zu werden versprach. Wobei das Sprechen des Textes während der Vorstellung vielleicht noch am ehesten zu bewältigen war, denn den konnte man bei einer Marionettenbühne blickgünstig vor sich an der Bühnenwand befestigen und beim Spielen einfach ablesen. Aber wie die Figuren ausstaffieren? Den Faustus, den Mephistopheles! Tante überraschte mit Ausdauer und Phantasie. Sie war eben doch ganz offenbar das Kind einer Schaustellerin. Sie stürzte sich geradezu in ihre Aufgabe, kaufte Stoffreste ein, machte Zeichnungen, nähte schon mal herum und wartete ungeduldig auf die erste Figur.

      Die Herstellung einer ersten funktionierenden Marionette wurde gewissermaßen das Nadelöhr für alle weiteren Pläne. Am schwierigsten, stellte sich heraus, war der Kopf der Puppe zu bauen, zumindest mit den primitiven Werkzeugen, über die Uwe verfügte. Er löste das Problem schließlich so, dass er mehrere Schichten Sperrholz in der Form eines Eies aufeinander klebte und den entstandenen Klotz so lange befeilte, bis er in etwa die Rundungen eines Kopfes hatte.

      Welch Gaudi in der Familie, als schließlich das erste Gestell munter durch die Stube spazierte, noch ohne Kleidung zwar, aber an den Fäden hängend und mittels Fadenkreuz geführt. Die Gelenkigkeit war verbesserungsbedürftig. Doch das Grundmuster bestand die Bewährungsprobe. Tante Betty begann sofort mit der Ausstaffierung. Uwe nahm sich die zweite Figur vor, und während er bastelte, sann er darüber nach, wie die Bühne beschaffen sein müsste, auf der "Doktor Faustus" gespielt werden könnte. Was den Ort betraf, an dem sie errichtet werden sollte, schien ihnen der Wäscheboden des Elternhauses am günstigsten, wo Uwe nach Weihnachten gern noch einmal seine elektrische Eisenbahn aufzubauen pflegte. Dort würde auch genügend Platz für Zuschauer sein. Denn das war ja wohl klar: Marionetten ohne Spiel und Zuschauer wären glatt für die Katz gebaut und kostümiert! Ein wetterunabhängiger Spielort war daher auf alle Fälle schon einmal ganz wichtig. Woher die Zuschauer kommen sollten, war zwar offen, aber sozusagen erst die zweite Frage.

      Neben dem Bau der Figuren nahm Uwe daher die Errichtung der Bühne in Angriff, sobald die Eltern zugestimmt hatten. Was den Wäscheboden betraf, hatten sie zwar Vorbehalte, aber es war ihnen letztlich gar keine andere Wahl geblieben. Dem Elan von Uwe und Tante Betty konnten und wollten sie nicht im Wege stehen. Ihr Sohn träumte von einer Bühne mit richtigem Vorhang, der sich auf- und zuziehen ließ. Auch plante er, Lampen zu installieren, um die Szene gründlich ausleuchten zu können.

      Als das Gerüst an der Rückwand des Wäschebodens Gestalt annahm, und für Mutter und Bruder auch schon mal ein Marionetten-Skelett über die künftige Bühne spazierte, was von beiden mit entzücktem Ah und Oh quittiert wurde, meinte Tante Betty plötzlich animiert, dass unbedingt auch Musik dazu gehöre. Sie erklärte sich bereit, eine Anzeige aufzugeben, um an irgendein altes Grammophon heranzukommen. Gesagt, getan. Schon nach wenigen Tagen hielt die Tante ein Angebot in der Hand. Irgendwer bot für fünf Mark ein altes Grammophon an. Tante überlegte nicht lange und holte das Ding mit einem Taxi herbei. Sie brachte sogar ein paar uralte Schallplatten mit. Die Freude war groß. Alle lauschten gespannt dem ersten Versuch. Irgendwie aber klang alles merkwürdig. Hatten sie etwa nicht die richtigen Nadeln als Tonabnehmer? Bald war klar, warum nur fünf Mark verlangt worden waren: Der Teller mit der Schallplatte drehte sich viel zu schnell! Was im Tontrichter wie eine Frau quäkte, war eigentlich ein Mann. Der Lauf der Platten ließ sich partout nicht langsamer regulieren. "Musik ist Musik", sagte Tante schließlich sarkastisch, alle Kritik von sich weisend. Immerhin: Für putzige Unterhaltung des Publikums vor Beginn einer Vorstellung und auch während notwendiger Pausen war bestens gesorgt.

      Was die Bekleidung der Marionetten betraf, entpuppte sich Tante Betty als wahre Zauberin. Wie sie die nüchternen Holz- und Drahtgestelle laut Personenzettel mit einfachsten Mitteln phantasievoll ausstaffierte, war verblüffend. Der Faustus schien wirklich ein ernsthafter alter Gelehrter, und Mephistopheles glänzte in seinem feuerroten Kostüm mit weitem Stehkragen echt gefährlich. Wobei gesagt sein muss, dass Uwe dem Höllenfürsten zwei unübersehbare Hörner verpasst und den Kopf außerdem rabenschwarz angemalt hatte. Kasper hatte eine Zipfelmütze mit eigenem Faden, so dass die sich bei besonderer Gelegenheit aufrichten ließ, zum Beispiel in gefährlicher Situation, wenn sich dem Kasper vor Angst gewissermaßen die Haare sträubten. Das versprach, lustig zu werden.

      Endlich eines schönen Tages war das Figuren-Ensemble komplett, und die Bühne bespielbar. Also begannen die Proben. Uwe und Tante Betty standen stundenlang auf schmalem Brett, beugten sich über eine kleine Reling und übten. Die Marionetten, die gerade nicht an der Reihe waren, hingen greifbar hinter ihnen an der Wand. Es war schon ganz schön schwierig, mit Daumen und kleinem Finger den Steg, an dem die Marionette befestigt war, immer so zu halten, dass sie knapp über dem Bühnenboden stand, und obendrein auch noch mit Zeige- und Mittelfinger den vorn am Steg beweglich quer befestigten Bügel, von dem Fäden zu den Füßen verliefen, so zu bewegen, dass die Marionette ihre Beine hob und lief.

      Uwes Bruder Karl, der gern zuschaute, monierte immer wieder, dass die Figuren wie Geister schwebten, statt wie Menschen zu gehen. Aber mit Geduld gelang die Lauferei immer besser. Das zu meisternde Problem war, dass man nach unten blicken musste, um zu sehen, dass die Figur wirklich auf dem Boden stand und ging, dass man aber auch zum Text schauen musste, um just die Zeile auszuspähen, die gerade laut abzulesen war. Aber Übung macht bekanntlich den Meister. Mit der Zeit kannten beide Spieler bestimmte Textstellen ein bisschen auswendig und konnten sich besser aufs Spiel konzentrieren.

      Während der Proben geschah Unerwartetes. Anfangs hatte sich Uwe ganz auf seine Aufgaben konzentriert, aber eines Tages war ihm plötzlich bewusst geworden, dass er ab und zu mit seiner Tante körperlich Kontakt hatte. Einmal schien ihm sogar, dass sie ihren Hintern absichtlich von der Seite ein wenig an ihn drückte. Gewiss war das ein Irrtum, aber immerhin ungeheuer aufregend. Er versuchte herauszubekommen, ob sie etwa tatsächlich unauffällig die Nähe suchte. Schließlich hatte sie keinen Mann, und er war doch irgendwie auf dem Wege. Als ihm klar wurde, dass sie leider nur zufällig, eben im Spiel, seine Seite berührte, nahm er sich vor, immer eng bei ihr zu bleiben, um ihren Körper ab und zu spüren zu können. In ihm wallte da stets etwas auf, was er nicht definieren konnte, was aber verdammt angenehm war. Wie gewaltig erregend musste das sein, wenn sich wirklich Haut mit Haut berührte, ohne irgendeinen Stoff dazwischen.

      Ganz und gar aus dem Häuschen geriet Uwe, als er wenig später unerwartet und ganz nah Tantes splitternackte Brüste zu sehen bekam. Sie probierte immer mit Leidenschaft, weshalb sie stets ins Schwitzen kam. Deswegen erschien sie eines Tages nur mit losem Turnhemd bekleidet, das offenbar ein, zwei Nummern zu groß war. Jedes Mal jedenfalls, wenn sie sich nach vorn beugte, was oft nötig war, gab sie unfreiwillig Uwe den Blick frei auf ihre runden, jetzt glockig hängenden Brüste. Ein umwerfender Anblick. Uwe verschlug es den Atem. Beinahe hätte er sich verraten, aber es gelang ihm, seine urplötzlich aufwallende Erregung zu verbergen.

      Nun nutzte er jede sich bietende Gelegenheit, unauffällig nach nebenan und auf Tantes Brüste zu schielen. Prompt war er abgelenkt, und Tante meckerte. Uwe hoffte, sie habe nicht mitbekommen, warum er aus dem Tritt gekommen war. Aber leider hatte sie offenbar mehr begriffen, als ihm lieb war. Zur nächsten Probe nämlich ließ sie Uwe keine Chance mehr. Ihm schien sogar, dass sie jetzt deutlich vermied, mit ihm in körperlichen Kontakt zu geraten. Was blieb, war die Erinnerung an ein aufregendes erotisches Intermezzo.

      Die


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