Sonnenwarm und Regensanft - Band 4. Agnes M. Holdborg
Stimmen, die zu ihr drangen. Kurz darauf öffnete sich die Wohnzimmertür.
Anna brauchte einen Augenblick zum Wachwerden. Sie hatte sich irgendetwas Sonderbares, Unheimliches zusammengeträumt. Noch schläfrig verdrängte sie die letzten Schleier des Traums, an den sie sich bereits in der Sekunde nicht mehr erinnern konnte, in der sie die Augen aufgeschlagen hatte.
Ihr Bruder samt Freundin trat ein. Noch nahm Anna lediglich Jens‘ sandfarbenes Haar sowie Silvis schulterlange braune Mähne wahr. Blinzelnd tastete sie über Viktor hinweg nach ihrer Brille.
»Oh, Entschuldigung. Wir wussten nicht, dass ihr hier seid. Habt ihr geschlafen?«
Sobald Annas Brille auf ihrer Nase saß, schärfte sich das Bild. Jens grinste in der ihm typischen Art. Auf Silvis hübsches Gesicht legte sich ein Lächeln.
Inzwischen war auch Viktor aufgewacht, streckte sich, sagte aber nichts.
Jens ging in betont würdevollen Schritten zu ihnen, ergriff Annas Hand und schüttelte sie ausgiebig. Er unterstrich diese förmlichen Gesten mit einem knappen Diener, wobei seine grauen Augen allerdings fröhlich blitzten. Mit einem Mal ließ er ihre Hand wieder los, um Anna überschwänglich auf den Mund zu küssen. »Herzlichen Glückwunsch, Schwesterherz. Ich habe gehört, du hast dem Arsch eine geballert. Echt cooler Schachzug.«
… Noch vor gar nicht so langer Zeit waren sich Anna und ihr einundzwanzig Jahre alter Bruder spinnefeind gewesen. Das hatte sich drastisch geändert, seit Viktor in Annas Leben getreten war. Und seit sie und Jens herausgefunden hatten, dass sie sich telepathisch miteinander verständigen konnten. …
Annas Stimme klang vom Schlaf, dem eigenartigen Traum, auch von ihrem seelischen Zustand noch ein wenig belegt. »Erinner mich bloß nicht daran, Jens. Das war alles andere als schlau von mir.« Doch dann zuckte sie mit den Achseln. »Ach, was soll‘s? Der Mistkerl hat es voll und ganz verdient.«
»Na, das nenne ich die richtige Einstellung!«, rief Silvi gut gelaunt aus. »Wir haben Kuchen mitgebracht.« Sie schaute zu Jens. »Wie wär‘s, wenn du uns einen Feierabend-Kaffee dazu kochst?«
»Okay, bin schon auf dem Weg.«
»Woher weißt du überhaupt von der Ohrfeige?«, fragte Anna etwas später und leckte sich dabei den klebrigen Zucker des Berliners von den Fingern. »Hat Mama dir gesimst?«
»Klar hat sie. Und Ketu hat mir freundlicherweise ein paar feine Bildchen aus deinem Kopf geschickt. Bisher kann ich ja nur deine Gedanken, seine und die von Viktor und Vitus wahrnehmen. Na ja, das ist immerhin besser als nichts.«
»Überlegt bitte alle einmal, dass ich als rein menschliche Außenstehende vielleicht gar nicht so unglücklich darüber bin, wenn ihr nicht ständig mit euren ach so tollen Fähigkeiten prahlt«, gab Silvi schnippisch zu bedenken, machte allerdings einen kleinen Rückzieher, als sie die irritierten Blicke aufschnappte. »Ist doch wahr, oder? Ab und an komme ich mir richtig minderbemittelt vor, weil ihr solche Sachen könnt und ich nicht. Sogar Lena. Und Theresa hatte ja schon immer ihren sogenannten Siebten Sinn. – Äh, ich bin nicht neidisch, oder so. Nee, nee.« Sie hob die Hände, so, als wollte sie sich ergeben. »Also gut, also gut, ich bin neidisch. Aber nur ein ganz klein bisschen.«
»Silvi, wir bemühen uns doch wirklich, uns in deiner Gegenwart sozusagen normal zu verhalten. Das weißt du doch«, schalt Jens seine Freundin.
Silvi wurde rot. »Hhm, das stimmt ja auch. Ach, menno, gebt mir halt etwas Zeit. Manchmal krieg ich das alles immer noch nicht so ganz auf die Reihe, tut mir leid.«
»Also schön, keine Bemerkungen mehr über Elfen und so – und, falls es geht, auch nicht mehr über den blöden Prozess«, schloss Anna das Thema ab und stutzte, als es klingelte.
»Wenn das wieder diese dämlichen Reporter sind, dann werd ich denen aber was erzählen«, grummelte Jens.
»Reporter?«, stöhnte Anna und bemerkte entsetzt, wie neue Panik in ihr aufstieg.
»Keine Bange«, beruhigte Jens sie, »ich hatte denen gesagt, sie sollen sich verpissen oder ich rufe die Bullen. Na ja, ein bisschen netter hab ich‘s schon ausgedrückt, aber so in etwa. Falls das allerdings doch einer von diesen neugierigen Typen ist, werden Viktor und ich die bestimmt abwimmeln können. Mach dir keinen Kopf.«
Anna dachte darüber nach: Sie hatte sich wie in Trance von Viktor aus dem Gerichtsgebäude bringen lassen. Aus diesem Grunde waren ihr die Leute dort nicht so richtig aufgefallen. Jetzt erinnerte sie sich daran, dass Viktor die Meute von Journalisten auf dem Weg vom Gerichtssaal bis zum Auto mental in Schach gehalten hatte. Scheinbar waren die ihnen dennoch zur Wohnung gefolgt.
Mit gestrafften Schultern ging Jens zur Sprechanlage. Doch da vernahm Anna ihr vertraute Stimmen.
»Oh, ihr seid‘s!«, flötete Jens. »Na, dann alle mal reinspaziert!«
Kurz darauf traten Loana, Vitus, Viktoria, Ketu, Lena und Sentran ein. Sie hatten sich bereits Stühle aus dem angrenzenden Esszimmer mitgebracht, damit sie allesamt im Wohnraum Platz nehmen konnten. Nach einem Wangenkuss für Anna setzten sie sich, bis auf Loana.
»Diese Leute da draußen vor der Haustüre scheinen mir ganz schön neugierig zu sein, Anna.« Loanas Edelsteinaugen glühten vor Zorn. »Vitus war so freundlich, sie gedanklich des Weges zu verweisen. Sie sind nun unterwegs, um von einem schweren Unfall auf der Straßenbahn zu berichten, auf 52 A, glaube ich.«
Vitus nahm Loana bei der Hand und zog sie auf seinen Schoß. »Du meintest sicherlich die Autobahn mit der Bezeichnung A52, meine Schöne, denn eine Straßenbahn ist gar keine Straße, sondern ein Vehikel, das auf Schienen dahingleitet.«
Loanas Blick wurde weich, bevor sie kicherte, allerdings keinen Kommentar zu ihrem Versprecher abgab. »Keine Sorge, Anna, es gab natürlich keinen solchen Unfall. Bis diese Leute das feststellen, hast du erst mal Ruhe. Danach denken wir uns etwas Neues aus.«
Während sie das sagte, neigte sie den Kopf zur Seite und betrachtete Anna mit ihren grünen Augen. »Wir dachten, du könntest noch etwas Gesellschaft gebrauchen und eventuell ein Stückchen Kuchen. Aber, wie ich sehe, wurdest du bereits versorgt.« Sie legte die Hände schützend um ihren kleinen runden Bauch, wie es so typisch für schwangere Frauen war.
»Na ja, ihr schafft es bestimmt, den Kuchen auch ohne mich aufzuessen«, erwiderte Anna in leicht ironischem Ton und freute sich riesig über den großen Zuspruch. »Ich könnte euch einen Kaffee dazu