Lebensmotor Bewegung. Ernst Minar
Jedes Mal, wenn der Schaffner zu ihm heraufkam, um zugestiegene Fahrgäste zu kontrollieren, machte Jerry einen Grafit-Strich in sein Büchlein. Immer einen von oben nach unten gezogen, viermal nebeneinander, beim fünften Mal setzte er einen Querstrich, um den Überblick für seine penible Zählung nicht zu verlieren.
Der Schaffner, der gerade die Treppe hochgestiegen war, nickte Jerry zu, und beide setzten ein britisches Lächeln auf. Der Busfahrer saß hinter dem Steuer, schloss die Tür und fuhr los, während der Schaffner weiter herumging und sich anschickte, die Fahrkarten zu prüfen. Der Bus nahm Fahrt auf. Draußen war das Nieseln in einen Londoner Schnürlregen übergegangen. Dicke Tropfen prasselten gegen die Scheiben, aber Jerry war nur in seine Studie vertieft. Rätselhaft, dachte er bei sich, ziemlich mysteriös, was da vor sich geht.
Jerry Noah Morris arbeitete beim staatlichen britischen Medical Research Council. Er hatte festgestellt, dass seit Beginn des 20. Jahrhunderts die Zahl der Menschen, die an einem Herzinfarkt starben, dramatisch angestiegen war. In einer Vielzahl von Stunden hatte er die Todesakten der Menschen studiert, die zwischen 1907 und 1949 gestorben waren. Aus den Daten folgerte er, dass die berufliche Tätigkeit etwas mit dem Herzinfarktrisiko zu tun haben musste. Er schaute sich verschiedene Berufsgruppen genauer an. Unter ihnen waren Postbeamte und Busbesatzungen.
Er verglich deren Lebensstile: Sowohl Schaffner, die die Tickets kontrollierten, als auch Busfahrer aßen Sandwiches, tranken Guinness-Bier im Pub; sie atmeten täglich Abgase ein, waren derselben Lärmbelästigung und Luftverschmutzung ausgesetzt; sie wohnten im selben Soziotop; alles war gleich, ihr Lebensstil ident. Merkwürdig schien nur der Umstand, dass die Busfahrer im Vergleich zu den Kontrolleuren statistisch öfter und vor allem deutlich früher starben. Woran konnte das liegen?
Bei seinen ausgedehnten Begleitfahrten fand Jerry heraus, dass die Schaffner pro Arbeitstag zwischen 500 und 750 Stufen hinauf- und hinunterstiegen, weil ihnen das der Doppeldeckerbus abverlangte. Im Gegensatz dazu hockten die Busfahrer tagein, tagaus nur auf ihrem Sitz hinter dem Lenkrad. Sie saßen den Gutteil ihres Lebens. Der Forscher verglich seine neu gewonnenen Daten mit den Todesakten. Das Herzinfarktrisiko der Schaffner war nur halb so hoch wie das der Fahrer. Da machte es klick in seiner wissenschaftlichen Betrachtung.
Parallel dazu begutachtete Jerry die Postangestellten. Die Briefträger waren alle kerngesund. Ihre Kollegen allerdings, die in den Postämtern hinter dem Schalter dahindümpelten und nur hin und wieder die Stempel bewegten, erlitten merkbar öfter einen Herzinfarkt. 1953 veröffentlichte Jerry Noah Morris die Ergebnisse seiner Studie in dem anerkannten Medizin-Journal The Lancet.
Er erbrachte damit den ersten wissenschaftlichen Beweis, dass Bewegung gesund ist.
Bewegung verlängert das Leben.
Trägheit ist Selbstmord in Zeitlupe.
Die schriftliche Erkenntnis Mitte des 20. Jahrhunderts war recht spät, wenn man bedenkt, dass schon die alten Griechen und Römer gewusst haben, wie man mit Hirn durchs Leben geht – mens sana in corpore sano. Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Sitzen und knotzen gehört nicht dazu. Der Mensch weiß das schon lange, nur die Forschung hatte das Wort Prävention noch flächendeckend ausgeklammert.
Auch Bücher aus dem Mittelalter beschreiben, wie Bewegung in die medizinische Behandlung integriert wurde. Später, im 19. Jahrhundert, war die Sache längst klar.
Eine literarische Hebel-Wirkung
1811 schrieb der deutsche Schriftsteller Johann Peter Hebel den Essayband Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes, übrigens eines der Lieblingsbücher von Franz Kafka.
Darin ein Aufsatz mit dem Titel „Der geheilte Patient“.
„Reiche Leute haben doch auch allerlei Lasten und Krankheiten auszustehen, von denen gottlob der arme Mann nichts weiß, denn es gibt Krankheiten, die nicht in der Luft stecken, sondern in den vollen Schüsseln und Gläsern, und in den weichen Sesseln und seidernen Betten, wie jener reiche Amsterdamer ein Wort davon reden kann. Den ganzen Vormittag saß er im Lehnsessel und rauchte Tabak, wenn er nicht zu träge war, aß aber zu Mittag doch wie ein Drescher, und die Nachbarn sagten manchmal: ‚Windet’s draußen, oder schnauft der Nachbar so?‘ Den ganzen Nachmittag aß und trank er ebenfalls, bald etwas Kaltes, bald etwas Warmes, ohne Hunger und ohne Appetit, aus lauter langer Weile bis in den Abend, also, daß man bei ihm nie recht sagen konnte, wo das Mittagessen aufhörte und wo das Nachtessen anfing. Nach dem Nachtessen legte er sich ins Bett, und war so müd, als wenn er den ganzen Tag Steine abgeladen oder Holz gespalten hätte. Davon bekam er zuletzt einen dicken Leib, der so unbeholfen war wie ein Maltersack. Essen und Schlaf wollte ihm nimmer schmecken, und er war lange Zeit nicht recht gesund und nicht recht krank; wenn man ihn selber hörte, so hatte er 365 Krankheiten, nämlich alle Tage eine andere.
Alle Ärzte, die in Amsterdam sind, mußten ihm raten. Er verschluckte ganze Feuereimer voll Mixturen und ganze Schaufeln voll Pulver, und Pillen wie Enteneier so groß, und man nannte ihn scherzweise nur die zweibeinige Apotheke. Aber alle Arzneien halfen ihm nichts, denn er folgte nicht, was ihm die Ärzte befahlen, sondern sagte: ‚Wofür bin ich ein reicher Mann, wenn ich leben soll wie ein Hund, und der Doktor will mich nicht gesund machen für mein Geld?‘
Endlich hörte er von einem Arzt. Zu ihm fasste der Mann Vertrauen. Der Arzt merkte bald, was ihm fehlte, nämlich nicht Arznei, sondern Mäßigung und Bewegung. Er sagte: ‚Ihr dürft nicht mehr essen als zweimal des Tages einen Teller Gemüs, mittags ein Bratwürstlein dazu und nachts ein Ei, und am Morgen ein Fleischsüpplein mit Schnittlauch drauf.‘ Der Mann war dem Rat gefolgt und hatte 87 Jahre, 4 Monate und 10 Tage gelebt, wie ein Fisch im Wasser so gesund, und hatte alle Neujahr dem Arzt 20 Dublonen zum Gruß geschickt.“
Anno 1811 gab es vielleicht noch andere Diätkonzepte als heute, aber der Kern der Sache war absehbar. Zu Fuß gehen, anstatt die Kutsche zu nehmen, und sich zügeln beim Völlern – das vermeidet den Schreiner, der den Sarg zimmert.
Trotz dieser frühen Erkenntnisse hat die Wissenschaft bis Anfang der 1950er-Jahre gebraucht, um das amtlich zu bestätigen. Jerry Noah Morris sei Dank.
Ein Leben in Bewegung ist der beste Arzt
Es sind oft äußere Umstände, die die inneren Werte verändern.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war es zu einem großen Wandel in der Lebensweise der Menschen gekommen. Damals entstand die moderne Gesellschaft. Davor hatten sich die Menschen im Alltag grundsätzlich viel bewegt, die meisten waren einer körperlichen Arbeit nachgegangen. Danach wurden die Leute immer bequemer: mit ihrem Lebensstil, bei der Ernährung, auch in ihren Bewegungsmustern.
Wer ist ein Sportler?
Der Begriff Sportler hat in der Bedeutung einen merkwürdigen Wandel durchlaufen.
In der Antike waren Sportler Menschen, die an den Olympischen Spielen teilnahmen.
Später galten Menschen als Sportler, wenn sie an Wettkämpfen und Meisterschaften teilnahmen.
Heute ist jemand ein Sportler, wenn er zweimal die Woche joggen geht oder sich einmal pro Woche zum Fußballspielen trifft und nachher ein paar Bier reinkippt.
In zwanzig Jahren werden Menschen als Sportler bezeichnet werden, die zu Fuß zum Supermarkt gehen, um dort einzukaufen. Weil sie die Einzigen sind, die sich noch aus eigenem Antrieb aufraffen, den Allerwertesten zu heben, um die Tragtaschen eigenhändig nach Hause zu bringen. Der Sportler von morgen lässt ab von der Drohne.
Sattheit im Umgang mit sich selbst definiert heute schon die Verhaltensmuster der breiten Gesellschaft. Müßiggang ist die Geißel der Moderne.
Der Mensch sitzt zu viel. Auf dem Sessel bei der Arbeit. Auf der Couch vor dem Fernseher. Wir starren stundenlang auf Handys, leben mit dem Computer. Die digitale Revolution hat uns bequem gemacht. Und die Pandemie wirft ihre langen Schatten. Übergewicht und Bewegungsmangel zersetzen