Mord in Middle Temple. J. S. Fletcher
suche jetzt Mr. Breton in King’s Bench Walk auf“, sagte er in ruhigem Ton und schaute auf seine Uhr. „Es ist gerade zehn, er wird jetzt in seinem Büro sein.“
„Ich gehe auch dorthin“, sagte Spargo halb zu sich selbst.
Der andere Mann warf einen Blick auf Spargo, dann auf den Inspector.
„Das ist Mr. Spargo vom Watchman“, erklärte ihm der Beamte. „Er war dabei, als der Tote gefunden wurde. Außerdem kennt er Mr. Breton persönlich.“ Dann wandte er sich an Spargo. „Darf ich Ihnen Detective Sergeant Rathbury von Scotland Yard vorstellen? Die Aufklärung dieses Falles ist ihm übertragen worden.“
„Ach so“, entgegnete Spargo ein wenig gleichgültig. „Was wollen Sie denn bei Breton machen?“
„Ich will ihn auffordern, sich den Toten anzusehen. Vielleicht kennt er ihn. Auf jeden Fall steht seine Adresse auf diesem Zettel.“
„Dann lassen Sie uns zusammen gehen“, meinte Spargo.
Auf dem ganzen Weg blieb er sehr nachdenklieh und auch der Detective schwieg. Erst als sie die Treppe des Hauses am King’s Bench Walk hinauf stiegen, brach Spargo das Schweigen.
„Glauben Sie, dass der alte Mann ermordet, wurde, weil man ihn berauben wollte?“, fragte er und wandte sich plötzlich dem Detective zu.
„Um diese Frage beantworten zu können, müsste ich erst wissen, ob er etwas bei sich hatte“, antwortete Rathbury lächelnd.
„Ja, da haben Sie Recht. Es wäre ja möglich, dass er überhaupt nichts in seiner Tasche hatte.“
Der Detective lachte und zeigte auf eine große Tafel, auf der die Namen der Hausbewohner aufgelistet waren. „Bis jetzt wissen wir nur, dass Mr. Breton hier im vierten Stock wohnt. Daraus schließe ich, dass er seinen Beruf noch nicht lange ausübt.“
„Er ist noch sehr jung, ich schätze ihn auf etwa vierundzwanzig Jahre. Ich habe ihn allerdings erst ein paar Mal gesehen ...“
In diesem Augenblick hörten sie fröhlich lachende Stimmen.
„Hier scheint ja das Juristerei in einer sehr vergnügten Art und Weise betrieben zu werden“, meinte Rathbury. „Wie ich höre, kommt das Lachen aus Mr. Bretons Büro ... die Tür ist auch offen.“
Die äußere Eichentür des Büros stand sperrangelweit auf, die Innere war nur angelehnt. Durch den Spalt konnten Spargo und der Detective den Raum übersehen. An den Wänden standen Regale, die mit Akten gefüllt waren, darüber hingen in dunklen Rahmen Bilder berühmter Juristen. Aber im Vordergrund sahen sie eine hübsche junge Dame mit lebhaften Augen, die auf einen Stuhl gestiegen war. Sie hatte eine Perücke aufgesetzt, trug einen Rechtsanwaltstalar und schwenkte ein Aktenheft. Sie sprach, als ob sie vor dem Richter und den Geschworenen stehen würde. Mr. Breton und eine andere junge Dame, die an seiner Schulter lehnte, hörten der Rednerin belustigt zu.
„Meine Herren Geschworenen, ich unterbreite Ihnen vertrauensvoll diesen Fall. Auch Sie haben sicherlich Brüder, auch Sie sind verheiratet und Familienväter. Können Sie es da übers Herz bringen und zulassen, dass meinem Mandanten ein solches Unrecht zugefügt wird, ein solches Unrecht, das nie wieder gutzumachen ist?“
„So ist es recht, so machst du es gut“, sagte der junge Mann. „Hallo!“
Rathbury hatte an die innere Tür geklopft und seinen Kopf durch die Spalte gesteckt. Das junge Mädchen, das eben die flammende Ansprache gehalten hatte, sprang plötzlich vom Stuhl herunter, die andere machte sich aus dem Arm ihres Begleiters los und beide verschwanden in einem angrenzenden Raum. Ronald Breton trat einige Schritte vor. Er errötete ein wenig, als er den Besuch begrüßte.
„Treten Sie, bitte, näher“, sagte er schnell. „Ich ...“ Er machte eine Pause, als er Spargo sah, und streckte ihm überrascht die Hand entgegen. „Ach, Mr. Spargo! Wie geht es Ihnen? Wir ... ich ... wir haben uns hier eben einen Spaß gemacht ... in ein paar Minuten muss ich zum Gericht. Womit kann ich Ihnen dienen?“
Der Detective betrachtete den jungen Rechtsanwalt interessiert. Mr. Breton war groß und schlank und hatte ein freundliches Gesicht. Er war tadellos gekleidet, machte einen sehr vornehmen und sympathischen Eindruck und er schien zu den glücklichen jungen Leuten zu gehören, die zwar einen Beruf ergreifen, aber keineswegs davon abhängig sind.
„Ich bin mit Mr. Rathbury hierhergekommen“, erwiderte Spargo langsam. „Er wollte Sie sprechen. Detective Sergeant Rathbury von Scotland Yard.“ Spargo stellte den Beamten in geschäftsmäßigem Ton vor, aber er beobachtete Bretons Gesichtszüge sehr genau.
Der Rechtsanwalt wandte sich erstaunt an den Detective. „Ja und was wünschen Sie von mir?“
Rathbury fasste in seine Tasche und holte das kleine, graue Papier heraus, das er in seinem Notizbuch verwahrt hatte. „Ich möchte Sie etwas fragen, Mr. Breton. Heute Morgen wurde ungefähr um viertel vor drei ein älterer Herr tot in der Middle Temple Lane aufgefunden. Allem Anschein nach ist er ermordet worden. Mr. Spargo war dabei als man ihn fand.“
„Das heißt, ich bin etwas später dazugekommen“, verbesserte Spargo.
„Als man den Toten im Leichenschauhaus durchsuchte“, fuhr Rathbury in sachlichem Ton fort, „entdeckte man nichts, wodurch sich seine Identität hätte feststellen lassen. Der Mann muss wohl beraubt worden sein. Man fand nur dieses kleine, abgerissene Stückchen Papier in seiner Westentasche. Ihr Name und Ihre Adresse sind darauf vermerkt. Sehen Sie?“
Mr. Breton nahm es in die Hand und runzelte die Stirn, als er darauf schaute. „Wie seltsam! Wie sah der Mann denn aus?“
Rathbury schaute auf die Uhr. über dem Kamin. „Würden Sie bitte mit uns kommen und sich den Toten einmal ansehen? Das Leichenschauhaus liegt in der Nähe.“
„Ja ... ich ... wissen Sie, ich habe heute einen Termin.“ Breton sah ebenfalls auf die Uhr. „Die Verhandlung wird allerdings erst nach elf beginnen.“
„Dann haben wir ja genügend Zeit. Es wird höchstens zehn Minuten dauern, Hin- und Rückweg inbegriffen, und ein Blick genügt. Kennen Sie diese Handschrift?“
Breton hielt das Stückchen Papier noch immer in der Hand und betrachtete es wieder eingehend. „Nein. Ich wüsste wirklich nicht, wie dieser Mann. zu meinem Namen und zu meiner Adresse .gekommen ist. Vielleicht ist es ein Rechtsanwalt aus der Provinz, der mich geschäftlich etwas fragen wollte. Aber ...“, er sah Spargo lächelnd von der Seite an, „viertel vor drei Uhr morgens?“
„Der Arzt ist der Ansicht, dass er schon zweieinhalb Stunden tot war, als man ihn fand“, sagte Rathbury.
„Ich will den jungen Damen nur eben sagen, dass ich eine Viertelstunde weggehe“, erwiderte Breton. „Sie wollen mich nämlich zum Gericht begleiten. Es ist mein erster Fall“, fuhr er etwas verlegen fort, „keine große Sache, aber ich hatte meiner Verlobten und ihrer Schwester versprochen, sie mitzunehmen. Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick.“
Er ging in das angrenzende Zimmer und kam gleich darauf mit einem neuen Zylinder zurück. Im Gegensatz zu Spargo, der nicht viel auf sein Äußeres gab, machte Breton eine glänzende Figur. Spargo hatte vorher schon bemerkt, dass die jungen Damen ebenfalls sehr vornehm gekleidet waren und wenig in diese Umgebung passten. Sein Interesse für Breton und die beiden Mädchen erwachte plötzlich.
„Lassen Sie uns gehen“, schlug Breton vor.
Das Leichenschauhaus bot ein düsteres und trauriges Bild. Spargo schüttelte sich unwillkürlich, als er sich nach dem Gang durch den Sommermorgen dort umschaute. Auf den jungen Anwalt schien es dagegen gar keinen Eindruck zu machen. Er trat sofort an die Seite des Toten, als der Detective das schwarze Tuch lüftete, und sah ernst und fest auf die Züge des Mannes. Dann wandte er sich ab und schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte er entschieden, „ich kenne ihn nicht. Ich habe ihn noch nie in meinem Leben gesehen.“
Rathbury deckte das Tuch wieder über die Bahre. „Das dachte ich mir“, erwiderte er. „Nun, dann müssen wir eben