Bittersüßer Rakomelo. Joachim Koller
Nachdem er einige Wochen mit Despina zusammen war, hatte Tákis Ryan eine kurze E-Mail geschrieben, die nur zwei Sätze enthielt: Erinnerst Du Dich an unseren Tag am Berg und was ich damals sagte? Ich war mit Despina oben und ich kann Dir nur sagen, es war der beste Tag und die beste Nacht meines Lebens.
Ansonsten hatte Tákis nie große berufliche Pläne. Ihm war es wichtiger, dass es seiner Familie gut ging und er immer für seine Eltern und seine kleineren Geschwister da sein konnte. Ryan hatte damals noch den Traum, Lehrer zu werden. Aber dieser Traum war ebenso schnell ausgeträumt, wie viele weitere Berufswünsche. Eigentlich war Ryan zum ersten Mal wirklich zufrieden mit seinem Beruf, als er bei der griechischen Botschaft anfing. Dann, als er vom Unfall von Tákis Vater erfuhr und sich herausstellte, dass Victor Granat Schuld an dessen Tod hatte, konzentrierte sich Ryan nur noch auf ein Ziel: Rache an Victor Granat und den Menschen, die ihn umgaben.
Der Wagen von Chin Lee erschien und holte Ryan wieder in die Gegenwart zurück. Für den heutigen Tag hatte er auf die scheinbar teure Kleidung verzichtet. Er trug knielange Badeshorts, ein orangefarbenes T-Shirt und natürlich seine Brille, die er als Ryan Bradly immer trug. In seinem Rucksack hatte er neben einem Badetuch noch eine zusammengefaltete Luftmatratze eingepackt, zwei Schwimmbrillen, eine Trinkflasche und einen kleinen wasserdichten Beutel. Maria stieg aus und Ryan musste erneut zugeben, dass er es mit einer äußerst attraktiven Person zu tun hatte. Wenn nur der Charakter nicht so verdorben wäre. Die weiße, hautenge Hotpants und ihr ebenso enges Shirt betonten ihren Körper perfekt. Unter dem Shirt konnte Ryan einen roten Bikini erkennen. Sie winkte ihm zu, schnappte sich ihren Rucksack aus dem Wagen und spazierte ihm entgegen. Chin Lee wendete und verschwand umgehend wieder.
»Morgen! Wow, Du siehst fantastisch aus.«
Ausnahmsweise musste Ryan nicht lügen.
»Danke, ich habe mich bemüht. Lass uns etwas essen gehen, bevor wir uns aufs Meer hinauswagen.«
Ryan deutete auf ein Restaurant, dessen Terrasse einen direkten Blick über den Hafen bot. Vorsichtig legte er den Arm um Marias Schultern. Als er merkte, dass sie nicht abgeneigt war, führte er sie in Richtung des Lokals.
Während Maria und Ryan bei Fruchtsaft und einer üppigen Speiseplatte saßen und über gefüllte Weinblätter und Tzatziki plauderten, war Tákis von seinem Bruder in der hügeligen Gegend hinter Bali unterwegs. Nikos ließ ihn bei einem großen Ziegengehege aussteigen, reichte ihm die schwarze Sporttasche und verabschiedete sich mit den Worten: »Ich will gar nicht wissen, was Du machst, aber bitte, pass auf Dich auf.«
Tákis machte sich auf den Weg, den Berg schnellst-möglich zu besteigen. Mit der Tasche um die Schulter ging er den Weg entlang, von dem er wusste, dass er nach knapp einem Kilometer endete. Ab dann musste er über ein Steinfeld nur noch geradeaus bis zum Gipfel.
Tákis erinnerte sich an seine Wanderung auf den Berg, zusammen mit Ryan. Und auch seine erste Wanderung mit Despina war ihm noch gut in Erinnerung. Schon am Weg bis zum Berggipfel konnten sie damals kaum die Hände voneinander lassen. Am höchsten Punkt angekommen, präsentierte er ihr den herrlichen Ausblick und Despina bedankte sich auf ihre ganz spezielle Art und Weise bei ihm. Tákis wollte seine Trinkflasche aus dem Rucksack holen, als seine Freundin schon nackt vor ihm stand. Bis sie sich wieder anzogen, sollte es bis zum nächsten Morgen dauern.
Dieses Mal hatte er einen ganz anderen Grund für seine Wanderung. Ein Blick auf seine Uhr verriet ihm, dass er noch genügend Zeit hatte. Dennoch wollte Tákis so schnell wie möglich den Aufstieg hinter sich bringen, um sich voll und ganz auf seinen Auftrag zu konzentrieren.
Nach dem ausgiebigen Frühstück erkundigte sich Ryan beim Bootsverleih und wurde enttäuscht. Alle Motor-boote waren unterwegs.
»Wir haben noch zwei Tretboote, ansonsten ...«, erklärte ihm die Frau vom Verleih auf Griechisch. Maria stand neben Ryan und verstand kein Wort.
»Aber Tákis hat mir versichert, dass ihr für uns ein Boot ...«
»Tákis?«, sofort veränderte die Frau ihren gelangweilten Gesichtsausdruck und blickte ihn verschwörerisch an, »Warum sagst Du das denn nicht gleich. Wir haben ein Boot, natürlich.« Die Frau sah ihn kurz fragend an und blickte von ihm zu Maria.
Ryan verstand.
»Du kannst reden, sie versteht uns nicht«
»Sehr gut. Wir haben ein Elektroboot, das auch eine gute Geschwindigkeit hat. Aber es ist schon älter und wird wohl bald entsorgt werden.«
»Das glaube ich auch. Wird es Probleme geben beim ... entsorgen?«
»Keine. Wir werden es zwar bergen müssen, aber solche kleinen Unfälle können passieren. Tákis bekommt sein Geld wie besprochen am Abend.«
Ryan zog ein kleines Bündel Geldscheine hervor und legte es der Vermieterin in die Hand.
»Der Oberste ist für Dich, den Rest würde ich schnellstens verschwinden lassen. Es sind sehr schlechte Kopien.«
Mit einem breiten Lächeln steckte sie die Scheine ein.
»Ich hole sofort Euer Boot.«
»Gibt es Probleme?«, fragte Maria, die ahnungslos neben Ryan stand und die Unterhaltung nicht deuten konnte.
»Nein, wir steigen nur um auf eine umweltbewusstere Variante. Da keine Motorboote mehr zur Verfügung stehen, nehmen wir eines der Elektroboote. Die sind ebenfalls sehr gut motorisiert, dafür sogar leiser.« Maria hatte keine Einwände. Ihr Boot wurde ins Wasser geschoben und Ryan bekam eine kurze Einweisung. Ein Gashebel, das Lenkrad und der Hinweis, beim Aussteigen daran zu denken, dass das Boot keinen Anker hatte. Maria musterte das Boot abschätzig. Es war schon lange im Einsatz und hatte dementsprechend Abnutzungs-erscheinungen. Die dunkelrote Farbe war an mehreren Stellen ausgebleicht, die Sitzplätze vom Wetter leicht in Mitleidenschaft gezogen. Ryan sah ihren Ausdruck und lächelte.
»Die Zeit war etwas knapp um ein besseres Schiff aus Rethymnon oder Heraklion holen zu lassen. Aber für einen ersten Ausflug wird es genügen. Wenn es Dir zusagt, dann können wir das gerne wiederholen und dann habe ich etwas Vorbereitungszeit.«
Maria nickte ihm zu und ergriff seine Hand, um ins Boot zu steigen. Sie machte es sich auf dem Platz neben dem Lenkrad bequem und setzte ihre Sonnenbrille auf. Interessiert sah sie Ryan zu, wie er das Boot vom Strand weg steuerte und aufs offene Meer hinaus fuhr.
»Wie war Dein Buch?«, fragte Ryan nach. Maria musste kurz überlegen, was er meinte.
»Ach so, ja, das war interessant. Vielleicht kennst Du es, ‚Dino Park‘ von Michael Crichton. Es ist recht ähnlich zum Kinoklassiker ‚Jurassic Park‘.«
Ryan unterdrückte sein Lachen. Er versuchte möglichst normal zu klingen, wobei er sie am liebsten lautstark ausgelacht hätte.
»Soweit ich weiß, ist der Film auf Grundlage des Buches erschienen«, klärte er sie auf. Sie hatten inzwischen genug Abstand zum Strand, Ryan beschleunigte und das Boot schoss über das ruhige Meer.
Eine Waffe zu besitzen war auf Kreta nichts Unge-wöhnliches, aber ein richtiges Scharfschützengewehr hatte nicht jeder in seinem Besitz. Tákis kannte sehr viele Leute auf der Insel, darunter auch einige Personen, die sich nicht nur legal durchs Leben schlugen. Das Gewehr, welches neben ihm lag, war schnell zusammengebaut, ihm hatte eine kurze Einweisung gereicht.
Er hockte am Gipfel des Berges, hatte bei dem wolkenlosen Wetter eine herrliche Aussicht weit ins Landesinnere und über das Meer. Es war windstill, ideal für Tákis. Von seinem Platz aus konnte er einige Boote im Meer ausmachen. Mit einigen größeren Steinen hatte er sich ein provisorisches Stativ aufgebaut. Er platzierte das Gewehr darauf und blickte durch das Zielfernrohr. Sein Blick schwenkte über das Meer, von einem Boot zum nächsten. Die Uhr verriet ihm, dass er noch Zeit hatte. Ausgemacht war halb elf, noch vierzig Minuten.
Maria holte ihre Sonnencreme aus dem Rucksack. Betont lasziv zog sie ihr Shirt aus, verstaute es im Rucksack und lehnte sich zurück. Natürlich wusste sie genau, dass auf diese Weise ihr roter Bikini und ihr Körper schön zur Geltung kamen.
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