Bittersüßer Rakomelo. Joachim Koller
Die Villa stand alleine an der Straße, umringt von Bäumen und landwirtschaftlich genutzten Feldern. Der große Bau bestand bei näherer Betrachtung aus zwei Häusern, die mit einem hohen, überdachten Gang verbunden waren. Die blassgelben Häuser erinnerten mehr an eine Ferienwohnungsanlage, als an eine Villa für eine einzelne Person. Von den Balkonen musste man einen herrlichen Blick über die Ortschaft, das Hinterland und auch hinaus auf das Meer haben.
Tákis hielt vor dem Stiegenaufgang zum Eingangstor und hastete ins Freie. Er holte zuerst die schweren Koffer und stellte sie zur Stiege, bevor er ihr die Tür aufhielt. Maria stieg aus und sah sich um.
»Nicht sehr vielversprechend«, meinte sie missmutig. Maria ging zu den Stiegen und im selben Moment rannte Tákis los. Er spurtete zur Fahrerseite, warf sich in den Wagen und startete. Überrascht drehte sich Maria zu ihm um und wollte etwas sagen, als sich das Eingangstor öffnete und ihr Vater erschien.
Victor Granat war ein grauhaariger, relativ schlanker Mann, mit einem stechenden Blick, der wenig einladend wirkte. Doch beim Anblick seiner Tochter setzte er ein Lächeln auf, auch wenn er nervös wirkte und sich andauernd umsah. Trotz der sommerlichen Temperaturen trug der 55-jährige Mann einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd, das bis zum Hals zugeknöpft war und eine schwarze Fliege. Seine dichten Haare waren sorgfältig nach hinten gekämmt.
»Maria, mein Kind! Schön Dich zu sehen«, rief er erfreut und kam die Stiegen herab, dicht gefolgt von seinem persönlichen Bodyguard, Chin Lee. Dem Chinesen waren seine vierzig Jahre nicht anzusehen, soweit Maria ausmachen konnte, hatte er keine Falten im Gesicht. Sein jugendliches Aussehen wurde durch seine legere Kleidung noch verstärkt. Unter seinem dunkelgrauen T-Shirt war deutlich zu erkennen, dass er sehr athletisch war. Die kurzen pechschwarzen Haare glänzten aufgrund des vielen Gels. Seine dunklen Augen blickten ebenso nervös herum. Er nickte Maria nur kurz zu und ging rasch an ihr vorbei zur Straße.
Damit hatte Tákis gerechnet. Inzwischen war schon viel Zeit vergangen und Victor Granat hatte mit Sicherheit schon von dem Vorfall am Flughafen gehört. Tákis gab Gas und fuhr eiligst davon. Im Rückspiegel sah er den Chinesen, von dem er annahm, dass er mehr über den Tod seines Vaters wusste. Tákis beschleunigte und bog ein paar Hundert Meter von der Villa entfernt in einen Feldweg ein. Er rechnete nicht damit, verfolgt zu werden, dennoch hatte er eine Route im Kopf, die ihn zunächst zur Küstenstraße bringen sollte, bevor er zurück nach Bali fahren wollte.
Während Tákis die Familie Granat und den Bodyguard nicht mehr sehen konnte, beobachteten Despina und Ryan aus sicherer Entfernung das Geschehen. Die beiden saßen auf dem kleinen Balkon von Ryans Studio, das ihnen einen idealen Blick auf die Villa bot.
Das Zimmer selbst war einfach und zweckmäßig eingerichtet. Ein kleines Badezimmer mit Dusche, ein größerer Raum mit Kochecke, Esstisch, einem Doppelbett, einem kleinen Schreibtisch und der Balkon. Mehr war für Ryan nicht notwendig, geschweige denn, dass er sich etwas Luxuriöses nicht leisten konnte. Seine Koffer waren schon im Studio, Tákis‘ Bruder hatte sie abgeliefert, als er mit Despina am Strand war.
Nun saß Ryan mit Despina auf zwei Plastiksesseln, zwischen ihnen auf dem runden Tisch lag eine Spiegelreflexkamera mit einem knapp vierzig Zentimeter langen Objektiv. Mit diesem Monstrum hatten sie abwechselnd die Villa beobachtet und die Ankunft von Maria hautnah mitbekommen.
»Ich muss sagen, sie sieht nicht schlecht aus, oder?«
»Natürlich ist sie kein Vergleich zu Dir, wilder Lockenkopf«, meinte Ryan. Despina hatte sich, im Gegensatz zu ihm, nicht umgezogen und trug immer noch ihren knappen Bikini. Nur einen kurzen Rock hatte sie sich zwischenzeitig noch angezogen. Ryan saß in knielangen Shorts und einem offenen Hawaiihemd, auf welchen Palmen, Blumen und Wellen in unterschiedlichen Blautönen zu erkennen waren, vor ihr.
»Ich glaube, in der Aufmachung wirst Du sie aber nicht beeindrucken, Ryan«, stellte Despina fest.
»Keine Sorge, bei unserem ersten Treffen werde ich Maria anders gegenübertreten.«
»Du hast Dir das alles wirklich gut überlegt und durchdacht, oder?«
Ryan blickte noch einmal durch die Kamera. Er sah, wie der chinesische Bodyguard die Koffer nahm und sich mit ihnen abmühte. Maria und ihr Vater waren inzwischen schon im Haus verschwunden.
»Ich will, genauso wie Tákis, dass diese Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden. Von offizieller Seite aus kann niemand etwas machen, deshalb haben wir keine andere Möglichkeit. Mein Chef weiß selbst nicht genau, was ich hier mache, was auch gut so ist. Ich habe ihm nur gesagt, dass ich Bali gut kenne und mich etwas über Victor Granat erkundigen werde. Ich glaube nicht, dass er große Hoffnungen in mich setzt. Und ganz ehrlich, in erste Linie geht es mir um Tákis und nicht um die griechische Regierung.«
Despina griff nach der Wasserflasche und nahm einen großen Schluck, bevor sie die Flasche Ryan reichte.
»Ich will nur nicht, dass ihr Euch in Gefahr bringt. Mein Schatz hatte schon genug Probleme und das soll nicht noch einmal vorkommen.«
Ryan nickte ihr zu, antwortete aber nicht. Er hoffte, dass es keine Komplikationen geben würde. Aber noch war er sich nicht sicher, ob alles so einwandfrei klappen würde, wie er es sich vorgestellt hatte.
Die nächste halbe Stunde war nichts mehr bei der Villa zu sehen, Maria und ihr Vater blieben im Haus und damit außer Sichtweite. Tákis klopfte an der Tür zu Ryans Zimmer. Sofort sprang Despina auf und öffnete ihm. Nach einem langen Begrüßungskuss setzten sie sich zu dritt an den Esstisch.
»Sie ist bei der Erwähnung der Strandbar sofort nervösig geworden. Ich hoffe, Du hast recht und sie erscheint wirklich.«
»Davon gehe ich aus, Tákis. Tolle Haarfarbe, übrigens.«
Tákis warf ihm einen bösen Blick zu.
»Ich hoffe, das geht alles wieder raus. Diese Frau ist ein sehr … wie, sagt man das … Weib, das alles besser weiß und glaubt, etwas Besseres zu sein.«
»Hochnäsig, präpotent. Ja, das ist sie und das wird ihr zum Verhängnis werden.«
»Was erwartet ihr Euch von dem Ganzen?«, fragte Despina.
Ryan grinste sie verschwörerisch an.
»Wenn es klappt, dann wird Victor Granat zur Rechenschaft gezogen. Nebenbei bin ich mir sicher, dass für uns drei auch etwas herausspringt, finanziell gesehen. Victor muss in dieser Villa sein Vermögen gehortet haben, wenn er demnächst Europa verlassen will. Wenn wir das finden …«
»Das hat mein Schatz also gemeint mit einem neuen Leben«, meinte Despina und lehnte sich an ihren muskulösen Freund.
»Genau. Zu zweit ein Leben aufbauen, mit einem kleinen Geldsegen und mit dem Wissen, dass der Mörder meines Vaters zur Strecke gebracht wurde.«
»Aber vorher müssen wir noch einiges an Arbeit verrichten«, erinnerte Ryan.
Es war kurz nach einundzwanzig Uhr, als Ryans Handy läutete. Er war alleine im Zimmer, Despina und Tákis waren schon seit Längerem weg und wollten den Abend daheim verbringen. Am Display stand ‚Porto Paradiso‘, eine der vielen Nummern, die er sich vor seinem Flug nach Kreta zusammengesucht hatte.
»Hallo, Ryan. Du hast gesagt, ich solle mich melden, wenn diese Frau von dem Foto vorbeikommt.« Es war Giannis, der Besitzer der Strandbar. Tákis und Ryan hatten ihn vor ein paar Tagen gebeten, nach Maria Ausschau zu halten und Ryan gegebenenfalls zu informieren.
»Ich nehme an, sie ist nicht alleine.«
»Nein, ein Chinese ist bei ihr.«
»Danke, Giannis. Bis gleich.«
Es dauerte keine zehn Minuten, bis Ryan fertig angezogen war und sich auf den Weg zur Bar machte. Obwohl es noch sehr warm war, hatte er eine lange dunkle Stoffhose an, aufpolierte Lederschuhe und trug ein Hemd, auf dem das Logo einer Designerfirma deutlich zu sehen war. Alleine das Hemd hatte über hundert Euro gekostet, aber damit sein Plan aufgehen würde, musste Ryan tief in die Trickkiste greifen. Dazu gehörte auch seine neue Uhr, eine edle Breitling. Die Zahlen und Zeiger auf dem schwarzen Ziffernblatt