Im Schatten des Deiches. Fee-Christine Aks
kommt kein Wort heraus. Sie will sprechen. Sie kann es nicht. Die Worte gehorchen ihr nicht.
Sie will sprechen, mit der Frau. Die Frau ist nett zu ihr. Die Frau meint es gut. Die Frau wiederholt die Frage. Sie nickt. Sie keucht. Ein heiserer Laut dringt aus ihrem Mund, kein Wort, kein Ton. Sie schüttelt den Kopf. Sie weiß es nicht mehr. Sie erinnert sich nicht. Sie will sich nicht erinnern. Die Erinnerung tut weh. Sie hasst die Erinnerung.
„Hat er etwas gesagt?“
Die Frau fragt das. Die Frau fragt gut. Die Augen der Frau blicken sie an. Die Frau sieht es. Sie kann es nicht verstecken. Sie muss antworten. Sie will es nicht. Die Antwort tut weh. Die Antwort ist Erinnerung.
„Hat er etwas gesagt zu dir?“
Die Frau sieht sie mit großen Augen an. Die Frau nimmt ihre Hand. Die Hand ist warm und angenehm. Die Hand ist sicher. Die Hand tut gut. Die Frau tut gut. Sie will antworten. Sie kann es nicht. Die Erinnerung tut weh.
Sie will nicht antworten. Sie zögert. Sie muss antworten. Sie schluckt. Ihr Mund ist trocken. Ihr Kopf ist leer. Ihr Kopf ist nicht leer. Da ist ein Wort, ein Name. Der Name tut weh. Der Name ist Erinnerung. Die Erinnerung tut weh. Ihr Kopf tut weh. Sie weint.
Die Frau weiß die Antwort. Die Frau sagt ein Wort, einen Namen. Die Augen der Frau füllen sich mit Tränen. Sie drückt die Hand der Frau, vorsichtig. Sie weint. Sie sieht die Frau an. Die Frau öffnet den Mund. Die Frau sagt ein Wort, einen Namen. Sie nickt.
*****
Déjà-vu
Der kalte Abendwind frischte auf. Hier oben auf der Strandpromenade wehte der mitunter eisige Nordwest mit aller Macht, während er die schäumenden Wellen unten zwischen den dunklen Buhnen gewaltsam an den Strand trieb.
Eine dünne Mondsichel blitzte zwischen den düsteren Wolkenfetzen hindurch und warf unstete Schatten auf den asphaltierten Weg, auf dem bei diesem fast orkanartigen Wind und zu so später Stunde kaum noch jemand unterwegs war.
Einzig der große kräftige Mann im halblangen schwarzen Wintermantel stand oben auf der Deichkrone am Ende eines gewundenen Fußpfades, der in den dunklen Kurpark hinunter führte, und genoss mit tief in die Stirn gezogener schwarzer Wollmütze und hochgeschlagenem Kragen die kalte Abendluft und die steife Brise um seine gerötete Nasenspitze.
Wenngleich er den Kragen hochgeschlagen hatte, feste schwarze Winterschuhe trug und seine kräftigen Hände in warmen Handschuhen aus schwarzem Leder steckten, fröstelte er leicht. Nur einen Schritt weiter, und der Wind würde wie mit mächtigen Händen nach ihm greifen.
Doch obwohl er wusste, dass er dieser Macht widerstehen konnte, blieb der Mann, wo er war, und schaute stumm hinaus auf die aufgewühlte Nordsee. Dann wandte er den Blick nach links und ließ seinen Blick die Promenade entlang schweifen bis zum fernen Ende, wo hinter der ‚Heimlichen Liebe‘ der Südstrand begann, von dem nur der Deich den Garten seines Hauses trennte.
Auch wenn es zu weit entfernt war, sah er die Stelle in allen Einzelheiten vor seinem geistigen Auge: den Fuß des neuen Deiches, nah am schmalen Fußweg, der zum Südbad führte.
Dort war es gewesen; heute war es eine seiner Lieblingsstellen auf Borkum, der alten Insel, die seit langem den Naturgewalten trotzte und längst zu seiner Heimat geworden war, auch wenn er auf dem Festland geboren worden war.
Er hatte nie wirklich hierher gehört, aber er hatte sich arrangiert; genau wie er sich immer arrangiert hatte, mit jeder neuen Situation. Ein leiser Seufzer hob die breite Brust des Mannes, während er sich langsam umwandte und den Fußpfad hinunter ging.
Er humpelte leicht, doch war es längst nicht mehr so schlimm wie vor achtzehn Jahren, an jenem Tag, an dem diese Frau seinem bisherigen Leben ein Ende bereitet hatte. Diese schrecklich neugierige Frau war es auch gewesen, die ihm heute diesen Schock versetzt hatte. Sie wusste es. Er musste sie loswerden, ein für alle Mal. Sie war an allem schuld.
Er spürte, wie Wut und Rachedurst in ihm zu brodeln begannen. Warum nur hatte sie ausgerechnet zu jener späten Stunde dort vorbeigehen müssen, wo er gerade dabei gewesen war, seine Spuren zu verwischen? Warum nur hatte er damals gezögert und sich nicht gleich auf sie gestürzt?
Wie so oft schob er es auf die unerträglichen Schmerzen, die ihn in Sicherheit hatten kriechen lassen. Aber im Nachhinein schalt er sich einen Dummkopf, nicht an Ort und Stelle diese lästige Zeugin beseitigt zu haben. Dann hätte es das kurze Gespräch heute nicht gegeben. Sie wäre nicht allein in den frühen Abend hinausgegangen, während er ihr tatenlos hinterher sah. Er hatte nichts tun können, vor aller Augen in dem gemütlichen kleinen Café. Denn er musste unauffällig bleiben, damit niemand außer dieser Frau auf die Idee kommen würde, dass er…
Er musste handeln, umgehend. Auf die alten Teedosen und die Einweckgläser konnte er nun nicht mehr hoffen, das dauerte zu lange. Er musste sie beseitigen, so schnell es ging. Er war gut darin, im Beseitigen von Beweisen. Seit mehr als zwanzig Jahren war er ein Meister im Verwischen von Spuren und im Davonkommen.
Nie war ihm jemand auf die Schliche gekommen. Er war ein geachtetes Mitglied der Gemeinde, vielleicht nicht geschätzt, aber immerhin geduldet und mit dem nötigen Respekt behandelt. Erst gestern wieder hatte der Junge von Bakker ihm Achtung gezollt, als er ihm den Tannenbaum ins Haus gebracht und im Wohnzimmer aufgestellt hatte. Und der junge Henry stand seinem Vater in Ansehen und materiellem Besitz in kaum etwas nach. Sein Respekt war schwer erworben, aber hoch geschätzt.
Seufzend zwang der Mann sein heißer gewordenes Blut zur Ruhe, ging langsam den Pfad entlang, bog rechts ab und schlug den Weg direkt hinter dem Deich ein, seinen Lieblingsweg.
Auch hier hatte er bereits erfolgreich Spuren verwischt und hatte der Polizei ein Schnippchen geschlagen. Er kicherte innerlich, als er an dem grünen Behälter vorbeiging, der jetzt im Winter zum Aufbewahren von Streusalz genutzt wurde. Im Sommer war es jedoch nichts mehr als ein großer grüner Behälter, leer, wie er nur zu gut wusste.
Gedankenverloren musterte er den dicken Ast, den jemand offenbar erst vor kurzem vom Weg geräumt und an den grünen Behälter gelehnt hatte. Mit nachdenklich gerunzelter Stirn nahm der Mann den dicken Ast auf und wog ihn prüfend in den Händen. Eine perfekte Form, beinah eine Keule…
Gerade als er wieder auf den Weg treten wollte, klirrte etwas leise zu seinen Füßen. Er bückte sich und tastete im dürren Gras umher, bis das Leder seiner Handschuhe an etwas Hartes stieß, das sich beim näheren Befühlen als kleiner Anker aus Metall mit einem gebrochenen Ring daran herausstellte.
Wenn er sich nicht sehr täuschte, dann war es einer der Anhänger, wie er sie an den Schlüsseln zu den Ferienwohnungen von ‚Haus Nordstern‘ gesehen hatte. Möglicherweise war es aber auch der Junge Jaan gewesen, der ihn beim Wegräumen des Astes verloren hatte.
Andererseits trieb der Junge sich meist am Südstrand herum, zumindest hatte der Mann ihn schon des Öfteren und mit leichter Besorgnis dort gesehen. Bisher war es jedoch nicht nötig gewesen, den Jungen zu verscheuchen; nicht solange er nicht anfing, an einer bestimmten Stelle herumzulungern...
Mit einem leisen Klingeln ließ der Mann den kleinen Anker zurück ins trockene Gras gleiten und überlegte einen Moment lang, was den Jungen wohl immer wieder dorthin ziehen mochte. Ahnte er etwa, dass sich das Schicksal seiner heute schwachsinnigen Mutter dort ganz in der Nähe gewendet hatte?
Aber nein, er konnte es nicht wissen. Niemand war ihm je auf die Schliche gekommen, auch wenn es gerade damals nur sein unendlich großes Glück und sein eiserner Wille gewesen waren, die ihn vor Entdeckung gerettet hatten.
Langsam ging der Mann weiter, vorbei