Im Schatten des Deiches. Fee-Christine Aks
wohin der Wagen fuhr. Einmal hatte sie geglaubt, geschaukelt zu werden.
Sie war erst wieder zu sich gekommen, als er sie auf seinen kräftigen Armen durch die kühle Nachtluft trug. Sie hatte einen kräftigen Wind gespürt und das Salz in der Luft geschmeckt.
Sie wusste, dass er sie auf diese stürmische Insel in der Nordsee gebracht hatte. Und sie hatte gespürt, dass jene kostbare Minute – der Gang vom Auto zum Haus – ihre Chance gewesen war. Eine Chance, die sie aufgrund ihrer nur sehr langsam nachlassenden Benommenheit nicht genutzt hatte und bereits am nächsten Tag bereut hatte. Und danach jede zweite oder dritte Nacht.
Wie oft hatte sie seitdem daran gedacht, einfach wegzulaufen. Aber wohin? Und was würde dann mit dem Kind geschehen? Und wie sollte sie schaffen, das Haus zu verlassen, in dem er sie tagsüber kaum eine Sekunde aus den Augen ließ? Nicht einmal nachts war eine Flucht möglich; denn wenn er nicht bei ihr war, dann schloss er sie unbarmherzig ein in dem kleinen Kämmerchen am Ende des Flures, gleich neben der Tür zur Küche.
Mit einem traurigen Seufzen zog sie die Decke fester um sich, küsste den blassblauen Stein auf dem Ring an ihrer Hand und begann zu träumen. Sie träumte von Micha, wie sie zusammen im Heu gelegen hatten in den Spätsommertagen des vergangenen Jahres. Wie er sie auf Knien gefragt hatte, ob sie ihn heiraten wolle, damals an jenem stürmischen Oktobertag, den sie auf dem Dachboden der benachbarten Bäckerei verbracht hatten, wo er jeden Morgen außer sonntags ab vier Uhr früh in der Backstube stand und Hefeteig knetete.
Wenn doch nur dieses schreckliche Unglück nicht geschehen wäre, der Dachstuhlbrand der beiden aneinander grenzenden Häuser und das große Unglück…
Ein Scharren an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Kam er etwa zurück? Hatte er sie für heute noch nicht genug gequält? Sie machte sich steif unter der Decke und lauschte angespannt. Doch die Schritte verweilten nur einen Moment vor der Tür zu ihrer kleinen Kammer, dann ging er mit einem tiefen Schnaufen fort.
Sie atmete tief ein und langsam wieder aus. Dann schloss sie die Augen fester und versuchte zu schlafen. Sie musste schlafen. Morgen würde wieder ein sehr anstrengender Tag werden. Ein Tag, den sie unter normalen Umständen mit der Rundung ihres Bauches im Liegen verbringen sollte. Aber darauf nahm er keine Rücksicht, im Gegenteil.
Wie lange würde sie es noch aushalten? Und was geschah, wenn das Kind kam? Würde er ihr dann etwas mehr Ruhe gönnen? Unwahrscheinlich. Er hatte es ja nicht einmal für nötig befunden, sie zu einem Frauenarzt gehen zu lassen.
In den fünf Monaten, die sie bereits bei ihm wohnte, hatte sie nicht einen Fuß vor die Tür gesetzt. Wenn er ausging, verschloss er sorgsam alle Türen, an den Fenstern im Erdgeschoss waren schmiedeeiserne Gitter und aus dem oberen Stockwerk, von wo aus sie über das Dach des Anbaus in den Garten kommen würde, getraute sie sich nicht zu klettern. Sie konnte das Leben ihres Kindes nicht gefährden.
Die einzige Möglichkeit, überlegte sie wie schon so oft, war, einen günstigen Moment abzupassen, wenn er im Haus war. Sie musste es nur schaffen, ihm den Schlüssel abzunehmen. Doch diese Möglichkeit hatte sich ihr bisher nie geboten. Und sie wusste, dass sie bald weder die Kraft noch die Schnelligkeit mehr haben würde, um ihm zu entwischen. Ihre einzige Chance bestand darin, ihn zu überrumpeln und den Schlüssel aus seiner Hosentasche zu ziehen. Nur wie?
*****
Mit einem Seufzer lehnt Karl Jostermann sich zurück. Der Klappstuhl ist hart und ungemütlich. Aber im Amtszimmer der Polizei Borkum soll man sich nicht wohlfühlen, wenn man hier an Gerrits Schreibtisch sitzt und befragt wird.
„Danke, Karl“, sagt Gerrit und bewegt das kleine Gerät, das er ‚Maus‘ genannt hat, über das Plastikset mit Inselansicht, das auf seinem Schreibtisch neben der Computer-Tastatur liegt. „Wenn dir noch was einfällt, dann gib uns bitte schnell Bescheid. Wir müssen diese schreckliche Sache schnell aufklären, schon weil bald Weihnachten ist.“
„Ich verstehe es immer noch nicht…“, murmelt Karl und fährt sich mit leicht gespreizten Fingern durch sein schütter gewordenes silbergrau schimmerndes Haar. „Ausgerechnet Margit. Ich meine, wer tut sowas?“
„Ja, das möchte ich auch wissen“, sagt eine Frauenstimme in seinem Rücken, die Gerrit neben ihm zusammenzucken und mit den blauen Augen rollen lässt.
„Mensch, Gesche!“ brummt er und sieht die junge rotblonde Frau, die lässig am Tresen steht, mit gefurchter Stirn an. „Du bist wie ein Haifisch. Ist irgendwo Blut, dann riechst du das auf zwanzig Seemeilen Entfernung.“
„Tja, Brüderchen“, grinst Gesche, „über irgendwas muss ich ja schreiben, nicht wahr? Also, was hast du für mich?“
Gerrit lehnt sich in seinem gemütlichen Bürostuhl zurück und verschränkt die Arme vor der Brust. Der halb verärgerte, halb belustigte Blick, mit dem er seine Schwester mustert, führt Karl einmal mehr deutlich vor Augen, dass die beiden Zwillinge sind. Die gute Thede Raake hat es nicht leicht gehabt mit den beiden, erst recht nicht, nachdem ihr Mann Henny auf See geblieben ist.
„Ehrlich, Gesche“, seufzt Gerrit schließlich. „Wieso schreibst du nicht übers Wetter? Bring den geschätzten Lesern deines ‚Käseblatts‘ doch mal die Beaufort-Skala näher, dann gehen sie vielleicht endlich nicht mehr bei Windstärke Zehn raus an den Nordstrand, werden ins Schilf geweht und müssen aufwendig von deinem Janny und Juki und seinen Jungs gerettet werden.“
„Haha“, macht Gesche beleidigt. „Mein Janny, wie du ihn nennst, kann sich bis heute nicht entscheiden, ob er zu uns zieht oder ich zu ihm ins Dachgeschoss bei Jukis Vater ziehe. Bis das nicht geklärt ist, bleibt er für mich Herr Terling.“
„Herr Doktor Terling“, berichtigt Gerrit automatisch. „Immerhin ist er Notarzt, nicht wahr?“
„Na und?“ schnappt Gesche und lehnt sich wie unbeabsichtigt über den Tresen, um besser auf Gerrits Computerbildschirm schielen zu können. „Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, ich hätte mich in Juki verknallt. Er ist zwar – in Anführungsstrichen ‚nur‘ – Rettungssanitäter, aber dafür auch Feuerwehrmann. Und für die schwärmen doch große Mädchen, nicht wahr?“
Aus dem amüsierten Schnauben, das Gerrit von sich gibt, erkennt Karl, dass dies ein halbernstes Streitgespräch ist, das die Geschwister schon viele Male geführt haben. Wenn er es nicht besser wüsste, dann könnte man die beiden für ein altes Ehepaar halten.
Kaum zu glauben, dass Gesche wirklich eines Tages ihr Elternhaus im Wiesenweg verlassen und zu Janny Terling in die Ankerstraße ziehen wird. Solange Karl denken kann, haben Raakes im ‚Haus Seemöwe‘ gewohnt. Genauso ist es mit der Familie von Jan Uwe Akkermann, genannt ‚Juki‘, dessen Vater Claas am Südstrand Strandkörbe vermietet und das große ‚Haus Nordstern‘ bewohnt.
„Also?“ fährt Gesche, plötzlich wieder ernst, fort. „Was hast du für mich? Wer hat die alte Margit Geedes ermordet?“
„Mach mal halblang, junge Dame!“
Gerrits Miene ist schlagartig ernst. Er steht auf, streicht sich das kupferblonde Haar aus der Stirn und tritt zu seiner Schwester an den Tresen. Er nimmt ihre Hände in seine und blickt sie eindringlich an.
„Erstens, es ist noch nicht bewiesen, dass es wirklich ein Mord war. Ja, egal, was Janny gesagt hat. Zweitens, und das meine ich ernst, das letzte, was wir jetzt so kurz vor Weihnachten brauchen können, ist eine Schlagzeile in der Borkumer Zeitung, die ‚Mord in den Dünen!‘ schreit.“
„Danke für die Anregung“, grinst Gesche, ergänzt dann aber ernster: „Okay, dann, was soll ich schreiben? Ich muss was schreiben, weißt du? Heute morgen beim Bäcker haben mich alle Anwesenden auszufragen versucht, kannst du dir ja vorstellen. Ich habe nichts gesagt, aber einfach nur, weil ich nichts Genaueres wusste. Janny sagte nur, dass Margit der Schädel eingeschlagen wurde.“
„Und