Verirrungen. Jutta Hinzmann
ist der Doktor gerade zu einem Hausbesuch.“ „Dann warte ich hier und frage den Doktor selbst, wenn er kommt.“ Und ich stelle mich demonstrativ neben der Anmeldung hin und will warten. „ Na so etwas habe ich noch nie erlebt“, höre ich die Schwester sagen. Draußen dunkelt es bereits, alle Wartenden haben die Praxis verlassen, nur ich bin da. Endlich höre ich ein Auto, schnelle Schritte auf der Treppe, der Doktor kommt. „Nabend, na Schwester, noch Arbeit für mich?“ Die liebenswerte Schwester verneint. Und ich? Soll ich hier Wurzeln schlagen und gar ohne mein Anliegen die Praxis wieder verlassen? Auf keinen Fall. „Doch Herr Doktor, ich warte seit Stunden!“ Flugs drehte sich der Herr zu mir um, guckt auf mich und dann auf die Schwester. „Schwester Hilde! Was ist mit der jungen Frau?“ Schwester Hilde gibt dem Doktor eine kurze Antwort. „ Die gehört nicht hier her.“ Vielleicht ist es die kalte Antwort der Schwester, ich darf mit dem Doktor in das Sprechzimmer kommen. So lerne ich den Herrn Nuss kennen und bleib ihm treu, bis er viele Jahre später in Rente geht. Doktor Nuss hat ein Einsehen mit mir und schickt mich nicht wieder weg. Langsam erwacht der Frühling. Rund und gesund gehe ich durchs Leben. Mein Meister hat Wort gehalten und mich aus dem Wohnheim herausgeholt. Mein neues Zuhause nennt sich Arbeiterunterkunft. Eine zwei ein halb Zimmerwohnung. Eine Wohnstube, ein Schlafzimmer und ein halbes Zimmer. Küche und Bad gehören ebenfalls dazu. Alles im Neubauviertel von Lankow. Nicht die Lage der Wohnung stört mich, sondern der Umstand. Es wohnen bereits zwei schwangere Frauen hier. Da ich als dritte und letzte dazu komme, bleibt mir nur das halbe Zimmer. Viel Platz ist hier nicht. Wir drei Frauen teilen uns das Bad, die Küche und die Toilette. So lang wir unsere Babys noch unter dem Herz tragen, gibt es keine Probleme. Wir drei Frauen kommen gut miteinander aus und machen einfach das Beste daraus. Obwohl ein Neubaugebiet nach dem anderen aus dem Boden gestampft wird, herrscht großer Wohnraummangel in Schwerin. Mitnichten berührt mich irgendeines dieser Probleme. Egal, ob es süße kleine Strampler gibt, Bananen oder Orangen. Zufrieden schaue ich in die sozialistische Welt und habe noch nicht zu meckern. Noch nicht! In Nolte freut man sich auf den Nachwuchs. Ich wohl auch. Worüber ich mich nicht freuen kann, ist der Gedanke an eine Heirat. Mein Kind kann und will ich allein erziehen. Wozu brauchen wir dazu einen Papa? Obwohl ich diesem Thema ständig aus weiche, nervt mich der Vater von Joachim unentwegt. Man übergeht mich resolut. Meine Meinung, unwichtig. Und überhaupt, wo soll ich, dieses dicke Ding, ein Hochzeitskleid herbekommen? Joachim hat mir nicht einmal Hochzeitsantrag gemacht. So mit Blumen und liebevollen Worten. Nein prüde und dem Vater folgend setzt mir nun auch Joachim die Pistole auf die Brust. Was für eine nüchterne Welt. Familie Inge fährt mit ihrem Sohn in die Stadt, um ihn zur Hochzeit einzukleiden. Ohne mich, einfach so. Und würde ich dem Vater nicht endlich Folge leisten, soll ich Nolte fernbleiben. „Was soll denn aus dem Kind werden? Du bist ja selbst noch ein Kind. Denke doch an die Zukunft.“ Meinen zweiten entscheidenden Fehler mache ich mit der Zusage, doch Joachim zu heiraten. Aus der Traum vom weißen Hochzeitskleid, vielen Gästen, einer riesigen Partie und dem Mann! Wird schon, denke ich. Wenn das Baby geboren ist, vielleicht kommt dann die Liebe dazu. Nichts kommt. Nicht einmal ein vernünftiges Kleid zur Hochzeit ist in einem der vielen Geschäfte für mich zu haben. Zum Standesamt werde ich in einem orange farbigen schlichten Kleid und weißen Pumps erscheinen. Ich finde mich hässlich und strahle Unzufriedenheit aus, die mir jeder ansehen kann. Meine Hochzeitsklamotten darf ich allein bezahlen. Wie ungerecht. Keinen Schleier nur ein kleiner Handstrauß, nur meine Mutti, nicht mein Vater und die Eltern von Joachim, so erscheinen wir beim Standesamt. Lieblos und kalt leiert die Standesbeamtin ihren Text herunter und dann darf der Bräutigam die Braut küssen. Beim Verlassen des Standesamtes schwöre ich mir, mich so schnell wie möglich wieder scheiden zulassen. Ein heißer Sommer folgt und ich leide unter den Temperaturen und dem Umfang meines Bauches. Meinen beiden Mitstreiterinnen in der Arbeiterunterkunft geht es nicht anders. Unsere Geburtstermine liegen dicht bei einander und jeden Tag warten wir darauf, wen es zuerst treffen würde. Wie kann es anders sein, die ich als letzte in der Arbeiterunterkunft aufgenommen wurde, ist die erste, welche ihr Baby bekommen soll. Schon in der Frühe habe ich ein fürchterliches Ziehen im Rücken. Unruhe lässt mich im Zimmer auf und abgehen. Dass es die ersten Wehen sein können, daran denke ich in diesen Augenblicken nicht. Obwohl ich monatelang einen Schwangerenkurs besucht habe. Etwas mir unangenehmes beherrscht meinen Körper, was mir missfällt. Unbeholfen erhebe ich mich von meinem Bett und gehe zur Mitbewohnerin. Leise klopfe ich bei Matschi an die Tür. Matschi heißt eigentlich Maschewski, doch alle sagen Matschi zu ihr. Ihr schwarzer Wuschelkopf schaut durch die Tür, „Was ist Judith. Geht es los bei dir?“ Ich weiß es nicht genau und schaue nur ungläubig. „Komm schon rein. Wir trinken einen Kaffee, Kaffee schadet nicht.“ Endlich sind wir allein, Matschis Freund arbeitet auf den Bau und liegt stets ein Woche aus. Das Ziehen in meinem Rücken verstärkt sich. Was das wird? Meine Zimmernachbarin auch das erste Mal schwanger. Sie ist in Punkto „Kinder kriegen“ nicht schlauer. „Also, wenn die Wehen alle drei bis vier Minuten kommen, wird es Zeit für den Krankenwagen.“ Und so zählen wir beide. Dabei müssen wir dann doch lachen. Irgendwann vergeht mir vor Schmerzen das Lachen. Matschi hält inne und befiehlt mir, mich aufs Bett zulegen und mich nicht zu rühren. Bis zur nächsten Telefonzelle läuft man mindestens fünf Minuten. Hoffentlich funktioniert sie, es kommt oft genug vor, dass die Zellen nicht funktionstüchtig sind. Meine Tasche steht gepackt im Flur. Endlich höre ich die Wohnungstür klappen. Völlig aus der Puste, ruft Matschi mir zu, „ Der Krankenwagen kommt gleich. Los zieh dich an.“ Mit schlotternden Knien steige ich in mein Umstandskleid, schlüpfe in die Sommersandalen und nehme auf dem Bett wieder Platz. „Dann drück ich dir die Daumen, mach es richtig und lasst es euch gut gehen.“ Matschi wird nur noch ihr Baby in Schwerin zur Welt bringen, danach zieht sie zu ihrem Freund aufs Land. Wir würden uns nicht wieder sehen. Sie geht aufs Dorf und ich steige in den Krankenwagen ein. Der Fahrer schaut recht grimmig drein. Offensichtlich stört es ihn sehr, dass ich mich so innig von einer guten Bekannten verabschiede.
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