Knapp Wertvoll Sparsam. Friedrich Wegenstein
Welt oder eines multinationalen Wirtschaftsunternehmens fremd waren. Wenn er also vom Staat sprach, so meinte er damit (wie wohl alle Philosophen seiner Zeit) das organisierte, gesellschaftliche Umfeld des menschlichen Lebens.
Aristoteles war kein glühender Anhänger der Demokratie, er misstraute einer Staatsform, in der die Wünsche der Armen den Staat bzw. die Gesetzgebung dominieren könnten.19 Dennoch formulierte er für die Demokratie essenzielle Grundgedanken.
Der Staat war für ihn nicht nur eine geografische Gemeinschaft, innerhalb derer es galt, einander nicht zu schädigen, sondern auch eine Gemeinschaft des Handelns. Aus der Gemeinschaft, aus dem freundschaftlichen Zusammenleben heraus, wird die eigentliche Aufgabe des Staates: das edle und selbstständige Leben, erst ermöglicht.20 Man müsse also die politische Gemeinschaft auf die edle Handlung hin errichten und nicht bloß auf das Zusammenleben. Die Verfassung hätte im Sinne der Gerechtigkeit das Gemeinwohl zu berücksichtigen, welche von der Gemeinschaft der freien Menschen einzuhalten ist. Dabei ist Gerechtigkeit die Gleichheit für alle.21
Als politisch-wirtschaftliches Ziel des Staates nannte er die Autarkie.22 Offenbar übertrug er die Freiheit des Einzelnen auch auf das Gemeinwesen: Die Autarkie sichert die Unabhängigkeit und damit die Freiheit des politischen Handelns auch als Staat.
Der Staat, und damit auch die Staatsform der Demokratie, stellte mangels Kenntnis anderer Organisationsformen ein Synonym für alle organisierten, gesellschaftlichen Gebilde dar. Übertragen auf unser heutiges Leben bedarf es daher nicht nur der Demokratie des einzelnen Staates, sondern auch der Demokratie der Gemeinschaft der Staaten bzw. der Demokratie aller existierenden gesellschaftlichen Gebilde und Organisationen des Zusammenlebens.
Wir können nur vermuten, welchen Ursprungs damals der Gedanke der Gleichheit und der daraus resultierenden Gerechtigkeit war. Gerechtigkeit war jedenfalls der zentrale Begriff platonischen Denkens, welches Aristoteles weiterführte. Infolge seiner platonischen Quelle beinhaltet die Gerechtigkeit auch den (Güterbesitz) materiellen Besitz, weil dieser ursprünglich nicht allen zugänglich war und nur der arbeitenden Klasse zustand.23
Im antiken Athen gab es zu dieser Zeit eine adelige Oberschicht und eine Priesterschaft, welche anscheinend nicht mehr in der Lage war, ihre gesellschaftlichen Privilegien zu sichern und zu erhalten. Wie auch in der späteren Geschichte Europas hatte die gesellschaftliche Mittelschicht Athens die Willkür und den Hochmut der adeligen Oberschicht (und der Tyrannis) als derart unvereinbar mit ihrem eigenen Selbstbewusstsein erlebt, dass sie die daraus resultierende Not der ungleichen Behandlung als Ungerechtigkeit empfand.
Dennoch war diese Mittelschicht an keinem nennenswerten Aufstand gegen die Tyrannis beteiligt.24 Vielmehr hat sich Kleisthenes, als Angehöriger des Adels, zum Zweck des eigenen politischen Erfolges mit den Bauern und Handwerkern solidarisiert, um damit politischen Druck aufzubauen. Er propagierte die Mitsprache des Bürgertums, um in der politischen Auseinandersetzung gegen seinen politischen Rivalen Isagoras das Volk auf seine Seite zu ziehen.25
Erst durch die Einführung der Demokratie wurde der Erfolg Athens nicht nur von einer Oberschicht, sondern vom Selbstbewusstsein bzw. von der Identifikation einer breiten Schicht des Volkes getragen. Selbstredend ist, dass eine durch die Demokratie ausgelöste Identifikation und das damit bewusste Erleben von Mitverantwortung, ebenfalls zu ihrem Erfolg beitrugen.
Die Demokratie wurde somit aus dem Streben nach politischem Erfolg geboren. Die dann folgende Bewährung der Demokratie resultierte aus der Kraft der Erneuerung und der Identifikation der Gesellschaft mit ihrem Staatswesen. Die Leitfigur des Tyrannen bzw. des Monarchen erwies sich der Motivation der Bürger, für ein eigenes Staatswesen und eine eigne Gesellschaft zu kämpfen, als unterlegen.
Die philosophischen Überlegungen der Gleichheit und Gerechtigkeit waren dazu der theoretische Unterbau.
Für Aristoteles war der Staat die Gemeinschaft von Freien. Das politisch Gute wäre das Gerechte – und das Gerechte ist die Gleichheit für alle.26 Er meinte, dass jeder Staat und damit auch jede Gemeinschaft um des Guten willen bestünde und der Mensch ein von Natur aus staatenbildendes Wesen sei.27 Gleichheit und Gerechtigkeit stellten in der Antike eine politische, philosophische Schöpfung im Sinne einer gesellschaftlichen Vorteilhaftigkeit dar, die durch das Gesetz verwirklicht werden sollte.
Erst später wurde die Gleichheit aus einem sogenannten Naturrecht (Cicero) abgeleitet, welches in der Aufklärung bei John Locke zum persönlichen Rechtsanspruch mutiert: »Der Mensch wird … mit einem Rechtsanspruch auf vollkommene Freiheit und uneingeschränkten Genuss aller Rechte und Privilegien des natürlichen Gesetzes in Gleichheit mit jedem anderen Menschen oder jeder Anzahl von Menschen auf dieser Welt geboren.«28 Die ursprüngliche politische Schöpfung hatte sich im Naturrecht bestätigt und entsprach nun der Selbsterkenntnis des Menschen (und dessen Natur).
In England hat das Recht, die Macht des Herrschers zu beschneiden, allerdings Wurzeln, die weit vor der Aufklärung liegen. Auch wenn von Gleichheit noch keine Rede war, so schränkte bereits die Magna Carta29 aus dem Jahr 1215 die Rechte des Herrschers gegenüber seinen Untertanen ein. Sie begründete die Freiheit der Kirche von England sowie die ersten Bürgerrechte, indem sie z. B. Verbot, einem Menschen Freiheit und Eigentum ohne rechtmäßiges Urteil zu nehmen. Diese wurde 1628 durch die Petition of Right nochmals bestätigt, welche das Recht des Parlaments gegenüber dem König hervorhob (und den Monarchen u. a. dazu aufforderte, keine Steuern ohne dessen Einwilligung einzuheben, niemanden ohne Angabe von Gründen zu verhaften und ein ordentliches Gerichtsverfahren zu garantieren). 1679 wurde das Habeas Corpus Gesetz30 beschlossen, wodurch die Menschen vor willkürlicher Verhaftung geschützt wurden. 1689 wurde schließlich die Bill of Rights31 von Wilhelm von Oranien vor seiner Krönung unterschrieben, in dem die Befugnisse des Parlaments nochmals verstärkt und die Prinzipien der Magna Carta ausgebaut wurden.32
Die historischen Wurzeln der modernen Menschenrechte sind vielfältig. Jede Unterdrückung von Menschen führt zwangsläufig zur Gegenwehr, nachdem offenbar alle Menschen in ihrem Bedürfnis, ihr Leben nach den Mustern zu leben, welche ihnen die Evolution mitgegeben hat, tatsächlich gleich sind. Auch aus naturwissenschaftlicher Sicht ist kein sinnvoller Ansatz erkennbar, dass die evolutionären Grundbedürfnisse des einen Menschen eine andere Bedeutung oder Wertigkeit in der Evolution haben könnten, als die gleichen Bedürfnisse eines anderen Menschen. Diese philosophische Vermutung, welche noch aus der Aufklärung stammt, prägt heute die naturwissenschaftliche Gewissheit des Begriffes der menschlichen Gleichheit. Und auch wenn die Talente und Fähigkeiten der Menschen höchst unterschiedlich ausgeprägt sein mögen, so kann doch niemand beurteilen, welche dieser Merkmale (insbesondere auf lange Sicht) evolutionär bedeutsamer sein könnten. Im Sinne der evolutionären Vielfalt ist eher zu vermuten, dass die unvorhersehbaren Varianten an Lebenssituationen vielfältige Eigenschaften erfordern, um diese erfolgreich bewältigen zu können. Dabei unterstützt die Evolution die menschliche Vielfalt über das individuelle Bewusstsein des Menschen, um die unterschiedlichen Ausprägungen wirksam werden zu lassen.33
Von der Antike bis heute wurde dieserart der Grundstein zu den Menschenrechten gelegt, die ohne Demokratie nicht verwirklicht werden können. In welcher Staatsform könnte jeder Mensch als gleich an Würde und Rechten34 geachtet und behandelt werden, wenn nicht in der Demokratie? Umgekehrt ist die Demokratie ohne gleiche Menschenrechte seiner Bürger ebenso undenkbar. Wie sollte z. B. der Wille eines Staates von einem Volk ausgehen, welches in seiner Willensentscheidung nicht frei wäre?
Immanuel Kant fasste dies wie folgt: »Das angeboren Recht ist nur ein einziges: Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit, nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann35 …«
Das Ziel der Gleichheit und der daraus resultierenden Freiheit kannte daher bisher als Ort seiner Verwirklichung nur den Staat. Die Ausweitung des Staates auf von ihm getrennte, weit entfernte Territorien, die Entwicklung einer über den Staaten liegenden Organisationsebene in Form der UNO, in Form grenzüberschreitender Verträge oder in Form eines weltweit agierenden Wirtschaftsunternehmens, sind philosophisch unbekannte Bereiche. Wer achtet innerhalb der Staatengemeinschaft darauf, dass die Freiheit des Einen