Tote Models nerven nur. Vera Nentwich
nach meinem Fahrrad.
»Sorry, aber ich muss weg«, rufe ich der angsterfüllt starrenden Dame entgegen. Sie macht eine kurze Bewegung, die ihr Pinscher nutzt, um sich loszureißen. Er stürmt auf mich zu. Ich schwinge mich aufs Fahrrad und trete in die Pedale. Die Frau versucht, sich mir in den Weg zu stellen.
»Buh!«, mache ich und sie stolpert ängstlich zurück. Nicht dass sie auch noch stürzt und sich einen Oberschenkelhalsbruch holt. Dann bin ich nicht nur eine Mörderin, sondern foltere auch noch alte Damen. Ich gebe alles, was der untrainierte Körper hergibt. Irgendwann wird das Bellen des Hundes leiser und ich strampele weiter die Stadionstraße entlang.
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich mich auf meine Couch fallen lasse. Keine Ahnung, ob dies nun damit zu tun hat, dass ich wie eine Verrückte in die Pedale getreten habe oder dass Judith tot im Teich liegt. Ihren starren Blick sehe ich jedenfalls immer noch vor mir. Wahrscheinlich wird schon die Polizei dort sein und die verrückte Alte schildert ihnen gerade, wie die Mörderin aussieht. Automatisch horche ich, ob ich vielleicht Sirenen höre, weil die Polizei auf dem Weg ist, um mich zu verhaften. »Beruhige dich, Sabine«, fordere ich mich auf. Panik bringt gar nichts. Die Alte hat mich nicht mit Namen angesprochen, also kennt sie mich nicht. Ich kenne sie auch nicht. Die Chance ist groß, dass sie der Polizei keinen direkten Hinweis auf mich geben kann. Sie kann mich vielleicht beschreiben, mehr nicht. Die Polizei muss dann erst einmal ermitteln, wer sich dahinter verbergen könnte. Es dürfte etwas dauern, bis sie auf mich kommen. Meine Anspannung legt sich etwas. Es ist nicht damit zu rechnen, dass sie heute noch vor meiner Tür stehen werden. Ich habe Zeit, um mir klar zu werden, was ich tun kann.
Es klopft an der Tür. »Kengk, bist du da?«
»Ja, Oma.«
Sie kommt herein.
»Wo warst du denn? Ich habe mit dem Abendessen auf dich gewartet.«
»Äh ja, im Büro war viel zu tun. Entschuldige, ich hätte Bescheid geben sollen. Ich habe gar keinen Hunger.«
»Ist dir nicht gut?« Wenn man nicht essen möchte, dann kann man für Oma nur krank sein.
»Alles ist gut. War nur stressig heute.«
»Du musst doch was essen, Kengk?«
»Ich habe ein Brötchen im Büro gegessen.« Das ist eine Lüge, aber anders werde ich Oma gewiss nicht los. Es wirkt.
»Dann ist ja gut.« Sie dreht sich um und geht zurück ins Erdgeschoss.
Ich schalte mein Notebook ein und rufe nacheinander verschiedene Nachrichtenportale auf. Womöglich wissen sie es schon. Aber es gibt keine Anzeichen, dass sich die Nachricht von Judiths Tod bereits verbreitet. Ich klappe das Notebook gleich wieder zu. Ich darf mich nicht verrückt machen. Nervöses Starren auf die Webseiten hilft mir nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Ich muss mich ablenken, auf andere Gedanken bringen. Vielleicht hilft das Fernsehprogramm. Das ZDF erscheint. Werbung, bevor die Nachrichten kommen. Ich zappe durch die anderen Programme. Auf einem der Digitalkanäle läuft eine ältere Folge von NCIS.
Das Klingeln des Weckers wirkt noch unangenehmer als sonst. Es holt mich in die beängstigende Realität zurück. Sofort sind alle Gedanken wieder da. Ständig sehe ich Judiths leblosen Körper im Teich liegen und sich langsam im Rhythmus der Wellen auf und ab bewegen, wie das Wrack eines gesunkenen Schiffes. Das halte ich nicht aus. Ich muss etwas tun. Hastig springe ich aus dem Bett und unter die Dusche. Das warme Wasser tut gut. Jeder Tropfen, der sich einen Weg an meinem Körper hinunter in die Duschwanne sucht, nimmt ein wenig Ungewissheit mit und lässt Klarheit zurück: Ich hätte nicht abhauen sollen. Die Polizei sucht bestimmt mit Hochdruck nach mir und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie mich finden werden. Mir fällt das Handy ein. Meine Nummer leuchtet deutlich auf Judiths Handy. Wie lange dauert so eine Abfrage beim Provider? Womöglich sind sie schon auf dem Weg zu mir.
Ich springe aus der Dusche, trockne mich in Windeseile ab und mache mich notdürftig zurecht. Dann hetze ich die Treppe hinunter. Oma sitzt am Frühstückstisch und schaut mich bestürzt an.
»Was ist los Oma?«
»Schrecklich! Judith ist tot.« Sie hält mir die Titelseite der Rheinischen Post entgegen. »Starmodel tot aufgefunden« prangt dort in großen Lettern. Ich reiße ihr die Seite aus den Händen und versuche meinen Herzschlag so weit zu beruhigen, dass ich den Artikel lesen kann.
Es wird beschrieben, wie Judith im Teich gelegen hat und das eine Frau die Leiche gefunden hätte. In diesem Zusammenhang würde nach einer Zeugin gesucht, die auch am Ort des Geschehens gewesen sei und sich dann entfernt hätte. Man beschreibt die Frau als Mitte bis Ende dreißig, kurze blonde Haare und eher klein. Mitte bis Ende dreißig? Was hat die Alte gesehen? Und eher klein bin ich mit meinen 1,70m auch nicht. Okay, anhand der Beschreibung finden sie mich nicht.
»Kengk, es dat neet schrecklich?« Ich gucke über den Rand der Zeitung.
»Und ob, Oma. Das ist der Hammer.«
»Wer tut denn sowas?«
»Keine Ahnung.« Ich schenke mir schnell einen Kaffee ein und trinke ihn hastig aus.
»Och Kengk, das nimmt dich mit, oder? Ihr wart schließlich mal Freundinnen.«
»Hmm. Oma, ich muss weg.« Mit einem kräftigen Klong setze ich meinen Kaffeepott auf den Tisch und drehe mich zum Gehen.
»Was ist denn los Kengk?«
»Später, Oma. Später.« Ich schnappe meine Jacke, spurte aus dem Haus, greife mein Fahrrad und radele in Richtung Kanzlei. Der Fahrtwind hilft mir, wieder klarer zu denken. Ich muss mich bei der Polizei melden, sonst sieht alles noch schlimmer aus. Ob Jochen heute Frühdienst hat? Ich könnte ihn gleich in der Kanzlei auf seinem Handy anrufen. Er wird wissen, was zu tun ist und mir helfen. Das ist ein Plan. Es beruhigt mich, dass ich einen Plan habe, der vernünftig erscheint.
Als ich am Schreibtisch sitze, bin ich nicht mehr so sicher, ob der Plan wirklich so gut ist. Vielleicht habe ich ja Glück und sie kommen doch nicht auf mich. »Sabine, sei nicht so feige«, schimpfe ich mit mir selbst. Ganz sicher werden sie auf mich kommen. Nein, ich muss mich melden. Entschlossen greife ich zum Telefonhörer und wähle Jochens Nummer. Der Rufton ertönt. Geh ran, Jochen. Geh ran!
»Biene?«
»Gott sei Dank, Jochen. Hast du Dienst?«
»Ja, wieso? Fahre gerade Streife. Was ist los?« Er klingt besorgt. Aber anscheinend hat er noch keinen Fahndungsaufruf nach mir. Das ist gut, hoffe ich.
»Kann ich dir am Telefon nicht erzählen. Kannst du zur Kanzlei kommen?«
»Biene, was hast du wieder angestellt?«
»Ich habe gar nichts angestellt. Das ist es ja. Ich brauche deine Hilfe. Bitte.« Dass ich bitte sage, macht ihn wohl nachdenklich, denn das kommt nicht so oft vor. Ich höre, wie er mit seiner Partnerin spricht.
»Okay, wir sind in fünf Minuten da. Mach keinen Blödsinn, ja?«
»Ach Biene!« Jochen schüttelt den Kopf, nachdem ich ihm die Geschehnisse geschildert habe.
»Warum bist du nicht dort geblieben? Deine Flucht gibt ein richtig schlechtes Bild. Und das bei deiner Vorgeschichte …« Wieder schüttelt er mit dem Kopf.
»Was meinst du mit ›Vorgeschichte‹?«
»Na ja, jeder weiß doch, dass du mit Judith Streit hast. Vor zwei Tagen habt ihr euch noch geprügelt und sie hat dich angezeigt. Das ist ein Motiv, Biene. Und was für eins.«
So wie er das sagt, macht das ganz schön Angst. Sollte ich jemals Mut gehabt haben, ist jetzt davon rein gar nichts mehr da. Im Gegenteil, ich muss sehr kämpfen, dass ich nicht auf der Stelle laut losheule. Jetzt wäre es schön, wenn er mich einfach in den Arm nähme und sagen würde: »Alles wird gut!« Den Gefallen tut er mir aber nicht. Stattdessen sagt er: »Wir müssen dich zur Vernehmung mit auf die Wache nehmen.« Der Kloß in meinem Hals ist so dick, dass ich nicht sicher bin, überhaupt je wieder Luft zu bekommen. Ich japse. »Du musst ehrlich schildern, wie es gewesen ist. Schließlich hast du sie ja nicht ermordet. Sie werden dir schon glauben.« Wenn ich ihm das nur glauben könnte. Wie