E R S A N. Dieter Gronau /// AMEISE

E R S A N - Dieter Gronau /// AMEISE


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So lebte im Sommer fast der ganze Ort Eski-Datca ausschließlich Tag und Nacht im Freien. Kein Haus befand sich im kühlenden Schatten eines Baumes. Das hatte im Winter wieder den Vorteil, die Sonne konnte die Lehmziegelwände vorzüglich aufheizen und es war ständig wohlig warm und trocken.

       Diese Nacht konnte Ersan kaum schlafen. Zu viele Gedanken schossen ihm durch den jungen Kopf. Aber dennoch glückte es, ein paar Stunden erholsamen Tiefschlaf zu ergattern. Die Sonne meldete sich am Horizont im Osten. Ersan erledigte, wie gewohnt, gleich nach seinem Vater, die Morgentoilette am Brunnen im Garten hinter dem Haus. Ersan ging nach seinem Frühstück, einige Schluck frische Ziegenmilch, einem Stück Brot mit selbstgemachter Aprikosenkonfitüre, wie an jedem Morgen, in die Schule. Es sollte das letzte Mal sein, das ihn seine Kameraden noch einmal sehen sollten. Heute wurde in zwei Schulstunden über Astrologie gesprochen, die Sternbilder und wie man sich nach den Sternen orientieren konnte. Das passte sehr gut zu Ersan seinem Vorhaben.

      „Der Polarstern steht immer im Norden, dann ist immer da Süden, Osten und Westen, stimmt?“

      „Jawohl, Hellseher, genauso ist es!“ bestätigte der alte Schuldirektor „Willst du heute eine Wanderung unternehmen?“ Fragte der Schuldirektor weiter Ersan

      „Wenn der wüsste! Wer war hier jetzt der Hellseher? Der Direktor, oder Ersan?“ Murmelte er halblaut vor sich hin und verfolgte aufmerksam, wie immer, den weiteren Unterricht

      „Wenn der Alte da vorne wüsste, das ich inzwischen viel mehr von der Sternenwelt am Himmel verstand, als er, der sich jeden Tag zuvor auf seine Unterrichtstunden am nächsten Tag vorbereiten musste. Nach so vielen Jahren Schulunterricht, muss er doch schon alles auswendig kennen,“ murmelte Ersan und dachte an den Polarstern, den hellsten, der immer genau im Norden stand. Er sollte sein Zielstern auf seinem Weg in den Norden, in eine interessantere Welt, sein. Das hatte er sich fest vorgenommen. Es stand fest, immer nach Norden, ganz egal wie, das sollte seine Zielrichtung für die kommenden Monate und Jahre sein.

       Zwei Stunden vor Mitternacht schnürte Ersan sein kleines Bündel, ein kleiner, alter Rucksack, der gut zu seiner noch jungenhaften Statur passte. Etwas Käse, Brot, zwei Flaschen Wasser aus dem heimischen Brunnen und ein Schulbuch über Astrologie verschwanden rasch im Rucksack. Er griff noch rasch nach einem Stück selbstgemachter Seife von seiner Mutter und warf den Rucksack über die rechte Schulter. Der Vollmond ließ den Garten in einem magischen Licht erscheinen.

      „He Vater, du bist auch schon das!“

      „Ja, mein Sohn, ich warte schon eine Weile auf dich. Lass uns ein Stück durch unseren Garten gemeinsam gehen!“

      „Du Vater, ich habe mich gar nicht von Mutter und meinen Schwestern verabschiedet?“

      „Ist alles schon in Ordnung! Geh nur ruhig! Sie wissen Bescheid und finden deine Entscheidung richtig. Sie wünschen dir viel Glück!“

      „Autsch, verdammt, dieser verflixte Stein, er bringt mich immer zum Stolpern. Wie oft wollte ich ihn schon ins Gemüsebeet werfen!“ Voller Schmerz humpelte der Vater neben Ersan weiter.

      „Zu ärgerlich! Ich glaube, ich kehre lieber um. Komm Ersan, mein geliebter Sohn, laß dich ein vorerst letztes Mal fest an mich drücken und umarmen. Machs gut, mein geliebter Ersan, mach es besser als ich. Du erreichst dein Ziel, das weiß ich. Mir war es leider nicht vergönnt und möglich.!“ Nach diesen Worten befreite sich der Vater aus der Umklammerung mit seinem Sohn und schob ihn sachte etwas von sich fort.

      „Ersan, lass dich noch einmal fest anschauen! Ich blicke in das vom Mondschein erhellte knabenhafte Gesicht eines jungen Mannes, der genau weiß, was er will, der ein festes Ziel vor sich hat! Alles Gute, mein Junge!“ Ersan blickte in das von Tränen durchnässte Gesicht von seinem Vater und drückte nacheinander beide Wangen zum Abschied an die seines Vaters.

       Komisch, Ersan spürte dabei nicht die Tränennässe auf dem Gesicht seines Vaters. Der drehte sich abrupt um, ging mit hochangezogenen Schultern, leicht humpelnd und im Nachtwind leicht wehendem Gewand auf einen alten Olivenbaum zu, unter dem Ersan vor 13 Jahren das Licht der Welt erblickt hatte und verschwand hinter dem fast einen Meter dicken Baumstamm.

       Ersan drehte sich noch einmal vollends um und blickte Abschied nehmend zu seinem Elternhaus. Um diese frühe Morgenstunde war schon jemand im Haus. Um diese Zeit schliefen doch noch alle im Garten, in der morgendlichen Kühle unter den vier Olivenbäumen. Ein Zimmer wurde von dem Schein einer Öllampe erhellt. Auf dem Fenstertuch konnte Ersan ganz deutlich den Schatten einer Frau erkennen.

      „Bist du es, Mutter?“ Der Schatten richtete sich auf und hob eine Hand wie zu einem Gruß.

      „He, was ist das? Da stand Vater im Mondlicht direkt neben dem Brunnen und blickte starr in seine Richtung.

      „Das gibt’s doch gar nicht! Vater war doch eben direkt neben mir. Mit seinem verstauchten Fuß konnte er doch unmöglich schon den weiten Weg bis zum Brunnen gegangen sein.

      „Warst du Vater eben bei mir? Warst du es wirklich?“

       Ein Schwall aus Tränen ergoss sich über Ersans Gesicht. Er konnte vor Abschiedsschmerz nicht mehr gerade weitergehen. Er heulte lautlos vor sich hin.

      „Gut mein Junge, Ersan! Nun bin ich dein Begleiter für dein weiteres Leben. Ich habe dich in die Welt gesetzt und dich geschult in Eski-Datca, so gut es eben an diesem Ort ging. Jetzt wirst du die Schule der Welt, unter meiner Anleitung, erfahren. Du wirst gute und viele schlechte Menschen kennenlernen. Aber sei getrost, ich bin immer bei dir, als dein Vater, der mehr ist als dein leiblicher Vater! Nun gut, das soll erst einmal reichen. Ersan, geh noch eine Weile durch die Felder, bis du an einen kleinen Tümpel kommst, der von einem Quellwasserbach gespeist wird. Dort ruhe dich noch ein paar Stunden aus. Wenn dich die Sonne wieder weckt, gehst du weiter, bis du an eine Verkehrsstraße kommst. Versuche mit einem LKW mitzufahren, so kommst ein gutes Stück weiter in Richtung Norden. Halte niemals ein Auto bei Nacht an, um mitzufahren. Bei Tage kannst du das Gesicht des Fahrers sehen. Das ist ganz wichtig!“ So tönte es mit tiefer, wohltuend klingender Stimme zu Ersan.

      „Wer bist du? Wo bist du? Zeige dich, ich fürchte mich nicht!“

      „Nein, du musst mich nicht sehen! Es reicht, wenn ich zu dir spreche!“

       Eine dunkle Wolke schob sich vor den Vollmond und verdunkelte die Umgebung um Ersan herum. Er blickte neugierig zum Himmel hinauf und suchte den Polarstern. Da zuckten zwei Sternschnuppen in langgestrecktem Bogen in Richtung Erde und erloschen nach ein paar Sekunden wieder.

      „Zwei Sternschnuppen nebeneinander, wie ungewöhnlich. Ich habe noch nicht mal eine Sternschnuppe in meinem bisherigen Leben gesehen und jetzt, gleich zwei! Wie wunderbar ist dies alles heute Nacht! Jetzt werde ich den weisen Rat befolgen und den besagten Tümpel suchen!“ Sprach Ersan laut vor sich hin, um seine innere Angst zu zerreden. Unheimlich erschien ihm inzwischen schon alles. Da spielten höhere Mächte mit, davon war Ersan inzwischen überzeugt und glaubte fest daran. Ersan stolperte mehr, als das er ging, über den kleinen Acker in Richtung Norden. Nach einer Weile des Schweigens, glitzerte etwas vor ihm im Mondlicht. Es war ein schmaler Bach, der munter in eine Richtung plätscherte.

      „Da bist du ja, mein angekündigter Wegweiser der Nacht! Nun zeige mir mal den Tümpel, wo ich den Rest der Nacht verbringen kann und soll!“ Ersan folgte dem Bachlauf. Nach einer Weile, etwa einer halben Stunde, schimmerte etwas Großflächiges im Mondlicht vor ihm.

      „Na siehste! Ich bin am Ziel für heute. Irgendwie sind meine beiden Beine jetzt auch sehr schwer. Wieso eigentlich, nach einem so kleinen Fußmarsch. Ich bin doch gewohnt stundenlang zu laufen und zu marschieren“

       Er suchte sich am Tümpelrand


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