Bonjour, Paris. Ilka-Maria Hohe-Dorst
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Ilka-Maria Hohe-Dorst
Bonjour, Paris
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Inhaltsverzeichnis
Prolog
Dem Zug aus Paris, der an einem milden Februartag des Jahres 1973 unter dem Tonnengewölbe des Frankfurter Hauptbahnhofs zum Stehen gekommen war, entstiegen eine ältere Frau und ihr wesentlich jüngerer Begleiter, ohne Koffer, sondern jeder nur mit Handgepäck, als hätten sie lediglich einen kurzen Aufenthalt geplant. Beide waren in dunkle Farben gekleidet. Die Frau, mittelgroß und schlank, trug ein dunkelgraues Kostüm, ein offenes Cape in gleicher Farbe und einen schwarzen, eleganten Hut, der hochgewachsene Mann einen mittelgrauen Anzug mit weißem Hemd und nachtblauer, dezent gemusterter Krawatte. Seinen schwarzen Wollmantel hatte er über den linken Arm gehängt. Gemeinsam schritten sie den Bahnsteig entlang, schwenkten erst nach links in die Bahnhofshalle, dann nach rechts in den Hauptgang und strebten dem Portal zu.
Auf dem Vorplatz warteten Taxifahrer hinter dem Steuer ihrer Fahrzeuge auf Bahnreisende, um sie zu ihrem endgültigen Ziel zu bringen. Die Frau blieb einen Moment stehen und ließ das Straßenbild auf sich wirken. Auf der Fahrbahn, die in einem weiten Bogen um den Bahnhof herumführte, drängten sich in Richtung und Gegenrichtung auf jeweils zwei Spuren Autos und Busse, auf der Bahnhofsseite flankiert von hellgelb lackierten Straßenbahnen, die an den Haltestellen ihrer Linien stoppten, um Fahrgäste aussteigen zu lassen und neue aufzunehmen. Rund um das Hauptportal herrschte die Atmosphäre einer atemlosen Hektik. Dunkle Wolken, die Regen ankündigten, hingen über der Stadt und tauchten die Szenerie in eine trostlose Düsternis. Im Blick der Frau lagen Missbilligung und Enttäuschung, als sei sie zum ersten Mal nach Frankfurt gekommen und habe an die Main-Metropole andere Erwartungen gehabt.
Ein Taxifahrer war aus seinem Wagen gestiegen und hatte sich der Frau und ihrem Begleiter genähert, um ihnen seine Dienste anzubieten. Sie übergaben ihm ihr Handgepäck, und während er es im Kofferraum verstaute, stiegen sie in den Fond des Wagens. Sie nannten dem Taxifahrer als Adresse den Frankfurter Hof am Kaiserplatz. Er fuhr die Kaiserstraße hinunter, die vor den Kolonnaden des im Stil der Neurenaissance erbauten Hotels einen Knick nach links machte, und bog dann rechts in die Bethmannstraße ein. Vor dem Hoteleingang hielt er an und stellte den Motor ab. Der junge Mann bezahlte die Fahrt, dann stieg der Taxifahrer aus und ging zum Kofferraum, um das Gepäck auszuladen. Inzwischen war ein Page herbeigeeilt, um den beiden Reisenden aus dem Wagen zu helfen. Der Taxifahrer übergab ihm die beiden Gepäckstücke, und der Page ging den neuen Hotelgästen voran, um sie zur Rezeption zu bringen.
Asche und Staub
Auf den Wegen des Frankfurter Hauptfriedhofs hatten sich während des Dauerregens, der sich seit der vergangenen Nacht über die Stadt ergoss, zahlreiche Pfützen gebildet, auf deren Oberflächen die schweren Tropfen zerplatzten, ehe sich ihre Fragmente endgültig mit dem Wasser vereinten. Bernd Busse hatte seine Schwester Bettina unter den Schutz seines Schirms genommen und ihr seinen rechten Arm zum Unterhaken geboten. Gemeinsam gingen sie den Trauergästen voran, die sich eingefunden hatten, um Eduard Claaßen, Bettinas verstorbenem Ehemann, das letzte Geleit zu erweisen.
Auf Bettinas Wunsch fand die Beerdigung nur im engsten Kreis statt. Die meisten der Trauergäste gehörten der Kanzlei Claaßen & Partner an. Direkt hinter Bettina und Bernd folgte Lutz Wenger, mit dem zusammen Eduard die Kanzlei vor vierzehn Jahren als eine Partnerschaft gegründet hatte und der ihm ein vertrauensvoller Freund geworden war. Wenger hatte den Arm um Jasmin Sommer gelegt, ihre gemeinsame Chefsekretärin, einundvierzig Jahre alt und seit langem der gute, unverzichtbare Geist der Kanzlei. Zwei junge Anwälte, die erst vor wenigen Jahren zu Claaßen & Partner gestoßen waren, der Chefbuchhalter, der Steuerexperte, Tanja Maurer, Bettinas beste Freundin seit ihrer gemeinsamen Schulzeit, und ein mit Eduard und Bettina befreundetes Ehepaar aus ihrer Nachbarschaft bildeten die Nachhut.
Während der Sarg in die Grube gelassen wurde, sprach der Pfarrer seine abschließenden Worte.
„Wir übergeben dich, Eduard Claaßen, dem Schutz und der Barmherzigkeit unseres Herrn Jesu Christi. Sein Friede sei mit dir. Amen.“
Neben dem Grab war ein kleiner Hügel Erde aufgeschüttet, von dem die Trauergäste, wie es Brauch war, einer nach dem anderen drei Schaufelspitzen voll auf den Sarg warfen: Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub …
„Du fehlst mir, Eduard“, flüsterte Bettina kaum hörbar, als sie mit Bernd den Anfang machte. „Umarme unsere Kleine für mich, falls du sie dort drüben wiedersiehst.“
In ihrer Stimme lag Bitterkeit. Während Bernd die Schaufel nahm, um ebenfalls dem Brauch nachzukommen, warf Bettina der Erde noch zwei Rosen hinterher, eine weiße für ihre Trauer und eine rote für ihre Liebe.
Die Herzattacke hatte Eduard ohne Vorwarnung getroffen, und Bettina nahm ihm übel, dass er sich dem Tod kampflos ergeben hatte. Er war erst zweiundfünfzig Jahre alt, als sein Herz ihm diesen Streich spielte, stand noch in der Blüte seines Lebens, war tatkräftig und ging für deutlich jünger durch, als er war. Doch er entschied sich zu gehen, und Bettina haderte mit sich, dass ihre Liebe nicht stark genug gewesen war, ihn zu halten.
„Er hätte es schaffen können, wenn …“
Doktor Fabritius, der viele Jahre lang Eduards Vertrauen genossen hatte, sprach den Satz nicht zu Ende. Seitdem kreisten Bettinas Gedanken unablässig um das Bedingungswort ‚wenn‘, ähnlich einer unerwünschten, endlosen Melodie, die sich nicht mehr aus dem Kopf verdrängen ließ.
„Er hätte es schaffen können, wenn …“
Wenn Claire noch am Leben gewesen wäre, über deren Verlust Eduard nicht hinwegkam. Claire hätte ihn halten können, ihr zuliebe hätte er gekämpft, dessen war sich Bettina sicher. Doch kurz vor ihrem zehnten Geburtstag war der verhängnisvolle Unfall geschehen, der sie in den Tod gerissen und ihre Eltern einer Belastung ausgesetzt hatte, der Bettina robuster standzuhalten vermochte als Eduard. Was immer sie