Fünfunddreißigtausend Jahre vor unserer Zeit oder wie der Mensch den Wolf zähmte.. Karl Reiche
sich die Altwölfe etwas erholt hatten, eilten sie deshalb weiter, ohne den beiden Welpen etwas Schlaf zu gönnen.
Die Gefahr, von dem anderen Rudel entdeckt und angegriffen zu werden, war zu groß. Langsam aber stetig zogen sie weiter. Die Welpen wurden jetzt nicht mehr im Maul getragen, sondern trotteten hinter den beiden Altwölfen her. Sie verlangsamten aber natürlich das Tempo und ermüdeten bald.
Notgedrungen legte die kleine Wolfsfamilie deshalb bereits am frühen Abend eine weitere Rast ein.
Die Wölfin säugte noch einmal die vollkommen ausgepumpten Welpen und die konnten sich endlich hinlegen und von den Schrecken und Strapazen dieses Tages erholen.
Im frühen Morgengrauen ging es bereits weiter und wieder bestimmten die langsamen Welpen das Tempo.
So kam es, dass die Wölfe, in deren Revier sie sich befanden, sie einholten.
Plötzlich versperrten ihnen sechs ausgewachsene Wölfe den Weg. An ihrer Spitze ein großer Rüde.
Drohend knurrend näherten die sich der kleinen Gruppe. Während die Wölfin sich breitbeinig über ihre beiden am Boden kauernden Welpen stellte und kampfbereit die Zähne fletschte, stelzte der Rüde hoch aufgerichtet, mit steil aufgestellter Rute, drohend geöffnetem Maul und gezeigten Zähnen auf den fremden Leitwolf zu. Er machte dem fremden Rüden damit eindeutig klar, dass er um das Leben seiner Wölfin und seiner beiden Welpen kämpfen würde.
Der Leitwolf des fremden Rudels hatte jedoch eigentlich keine große Lust auf einen Kampf. Durch das Feuer in der Nachbarschaft waren viele Tiere in ihr Revier geflohen und sie hatten reichlich Beute gemacht. Sein Rudel war satt und zufrieden. Sie waren zwar den beiden in ihr Revier eingedrungenen Wölfen zahlenmäßig weit überlegen, aber so wie die beiden sich darstellten, würde es ein harter Kampf werden. Dabei würde sicherlich auch sein Rudel nicht ungeschoren davonkommen.
An der Körperhaltung des fremden Leitwolfes erkannte der Rüde, dass dieser nicht unbedingt kämpfen wollte. Also signalisierte auch er, dass er nachgeben würde, senkte seine Rute und bog seinen Hals mit gesenktem Kopf und angelegten Ohren zur Seite.
Dann drehte er sich um, schnappte sich einen der Welpen und rannte davon; die Wölfin mit dem anderen Welpen im Maul rannte hinterher.
Das fremde Rudel ließ sie ziehen, auch wenn die Drohung ihres Auftauchens unmissverständlich war:
Verschwindet auf der Stelle aus unserem Revier.
Und so rannten die Altwölfe wieder. Nach einer Weile setzten sie die beiden Welpen auf den Boden und liefen in zügigem Trab vor ihnen her. Die Kleinen folgten keuchend. Auch sie spürten die Gefahr, mobilisierten ihre letzten Reserven und hielten das Tempo der Altwölfe durch.
Erst gegen Abend, als der Rüde sicher war, das Gebiet des anderen Rudels verlassen zu haben, machten sie die nächste Rast. Sie waren in den letzten Stunden ständig bergauf gelaufen und befanden sich jetzt in einem kleinen Tal in den Bergen. Die beiden Altwölfe waren müde und ausgepumpt und die beiden Welpen vollständig am Ende ihrer Kräfte. Immer noch keuchend tranken sie noch etwas Milch und fielen dann sofort in einen tiefen Schlaf der völligen Erschöpfung.
Es war klar, für die beiden Welpen reichte die Milch nicht, um sie für diese Strapazen bei Kräften zu halten und auch die Altwölfe mussten dringend etwas fressen.
So war es unvermeidlich, dass die beiden Altwölfe in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages die beiden Welpen allein ließen, um auf die Jagd zu gehen. Die Wölfin drückte sie vorher in ein Versteck und befahl ihnen damit, dort zu verharren.
Von der Erschöpfung des Vortages hatten sie sich einigermaßen erholt und so spielten sie miteinander, jagten und balgten sich und waren, trotz der Abwesenheit ihrer Eltern, bester Laune.
Ohne jede Vorwarnung sprang plötzlich ein Luchs von einem Felsen hinunter, packte die kleine Wölfin und biss ihr das Genick durch.
Noch während seine Schwester starb, rannte der kleine Rüde wieder um sein Leben. Er wusste genau, dass nur noch schnelle Flucht ihn retten konnte. Als er nach einer Weile merkte, dass er nicht verfolgt wurde, hielt er an und suchte sich ein Versteck, kroch hinein und blieb dort keuchend liegen.
Erst nach einer ganzen Weile beruhigte er sich wieder und versuchte, sich zu orientieren. Zu dem Versteck von heute Morgen konnte er nicht zurück. Aber wie sollte er seine Eltern wieder finden? Zu heulen, um sie auf sich aufmerksam zu machen, wagte er nicht:
Der Luchs konnte ja noch in der Nähe sein und sein Heulen würde ihn unweigerlich zu ihm führen.
So irrte er eine Zeit lang im Tal umher. Als die Sonne immer tiefer sank und schließlich unterging, wühlte er sich einen Eingang in ein dorniges Gestrüpp und kroch hinein. Hungrig und einsam verbrachte er eine unruhige Nacht. Immer wieder schreckte er hoch, lauschte und sehnte sich nach der Wärme und der Nähe seiner Mutter und nach der Sicherheit, die sie und der Rüde für ihn bedeuteten.
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