Die Geschichte vom Mädchen Phobie. HeikeHanna Gathmann

Die Geschichte vom Mädchen Phobie - HeikeHanna Gathmann


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schrecklichen Nacht vor dem Begräbnis erfahren, was ihr dieser aufgeblähte, unfähige Schreihals verraten wollte. Aber sie traute sich nicht, nachzuhaken. Hatte der Diabetiker der sterbensmüden Frau Insulin in den Morgenkaffee geträufelt, um sie in das Koma zu befördern? Es stand fest, dass er der letzte Mensch gewesen war, welcher die Mutter lebend angetroffen hatte. Seine Behauptung, sich an diesem Morgen vergeblich um ein Medikament gegen einen angeblichen, grippalen Infekt von Marlene bei Apotheken bemüht zu haben, konnte eine glatte Lüge gewesen sein. Warum hatte Nussbaum keinen Notarzt gerufen? Irrwitzig sein Getöse um das Vorhaben, zusammen mit der Tochter einen weiteren Kredit aufzunehmen, um das Geschäft zu retten. Phobie stimmte ihm in allem zu, aber nur, um aus dieser bedrohlichen Zwangslage herauszukommen. Nachdem er von seiner Nötigung abgelassen und die Bürotür aufgeschlossen hatte, war sie in Panik mit einem Taxi zu der älteren Schwester gebraust. Die Dokumentenmappe über das illegale Gelddepot in den Händen. Thea, in gleicher Weise verängstigt, hatte ihre drei Kinder derweil vorsorglich zu den Nachbarn geschickt. „Der hat sie umgebracht und den gleichen Veitstanz mit mir im Sinn! Stell‘ dir vor: Ich musste ihm eine Rezension über die Sängerin Tina Turner vorlesen - der Typ ist verrückt!“ Die Jüngere ahnte damals noch nicht, dass sich Thea bereits in Absprache mit ihrem Rechtsanwalt auf den bestmöglichen Verkauf des Unternehmens konzentrierte. Obgleich sie bereits geerbt hatte. Dankbar nahm chapter1Image2.jpeg

      Phobie einen schönen, schwarzen Wollpullover für den kommenden Trauerakt entgegen. Sie fühlte sich darin wie ein Schaf. „Ich habe noch einmal Marlenes Telefonnummer gewählt, um herauszufinden, ob du bereits sicher im Taxi unterwegs warst“, gab die Schwester zögerlich zu, „und grosse Angst bekommen, als Nussbaum abnahm. Du musst unbedingt das Haustürschloss auswechseln lassen.“ Die Jüngere nickte. Enttäuscht, weil Thea nichts von der entleerten Packung mit Valiumtabletten und der ausgetrunkenen Flasche Schnaps, die sie im Mülleimer der Mutter gefunden hatte, wissen wollte. „Im Eimer lagen sogar Scherben ihrer Lieblingsvase, Thea! Vermutlich hatten die beiden Streit, weil sie kein Testament zu seinen Gunsten aufgesetzt hat. Ist dir denn nicht aufgefallen, wie aufgeräumt und sauber geleckt Mutters Schlafzimmer ausgesehen hat? Warum hat er dich erst am Abend kontaktiert, wenn er die Tote bereits mittags gefunden haben will … was hat der Kerl nur den ganzen Tag lang gemacht?“ Das waren Fragen, die Phobie immer noch beschäftigten. Doch Thea war zu erschöpft gewesen, um weiter zu diskutieren. Oder sie wollte die Wahrheit nicht genau wissen. Vielleicht steckte die auch in den beiden Müllsäcken, die sie im Keller des Hauses vorfand. Vollgepfropft mit alkoholischem Flaschengut. Dabei war Marlene einmal eine sehr attraktive und aktive Frau gewesen, dachte sie traurig. Den Blick durch das Küchenfenster auf den verkauften Fuhrpark schweifen lassend. Dort waren nun eine Autowerkstatt und eine TÜV Prüfstelle eingerichtet worden. Phobie nannte den Nachfolger leicht spöttisch „Autokino“. Denn sie war der Meinung, dass die mobile, kunterbunte Welt ihren Preis haben würde. Die Abgase der benzinbetriebenen Blechrevolution die technischen Schöpfer um ihre Zukunft bringen würden, indem die Natur langsam, aber sicher vor die Hunde ging. Aus einem Segen kann auch ein Fluch werden, lautete ihr sprichwörtliches Resümee.

      Eine aufgeregt und schrill klingende Kinderstimme vor dem Fenster liess die Frau aufschrecken. „Schau‘ doch!“, rief der zehnjährige Moritz. Der Nachbarsjunge starrte auf den Wipfel einer ausgewachsenen, turmhohen Birke. Dort hing, schier unerreichbar, ein winziges, weisses Segelflugzeug, welches sich in den Zweigen verfangen hatte. Hilflos hantierte der Bub mit seiner Fernsteuerung. „Es wird abstürzen und zerstört sein“, bemerkte Moritz entmutigt. Phobie hatte das Fenster einen Spalt weit geöffnet, damit die kühle Luft dieses Spätherbsttages nicht weiter in ihr Haus drang. „Beim nächsten Sturm wird es bestimmt herabsegeln. Dann gebe ich dir das Spielzeug zurück“, versuchte sie den Jungen zu trösten. Irritiert, weil sie zu dem Kind fast fliessend und angstfrei sprechen konnte. Schliesslich trollte es sich und zog von dannen. Während sie das Fenster schloss, hatte die Frau den mittelgrossen, etwas molligen Vater vor Augen. Sie erinnerte sich, wie Michael mit Hut und schelmisch lachend seine sechszehnjährige Tochter von draussen beobachtete. Wie die in der Küche Arabesken und andere ballettähnliche Körperverdrehungen übte.

      Am nächsten Morgen war das Spielzeug spurlos verschwunden. Auf dem Küchentisch türmte sich Papierkram. Bescheide vom Jobcenter, Werbung, Geburtstagsgrüsse, Bankkontoauszüge. Phobie begann, über ihr eigenes Wirrwarr verärgert, die Zettel zu ordnen. Doch das papierne Rascheln veranlasste ihre Katze, unverhofft auf die Stapel zu springen und ein grösseres Durcheinander zu verursachen. „Was für eine elende Postkartenfamilie“, entfuhr der Frau wütend, „Grüsse werden nur schriftlich ausgetauscht!“ Eine Postkarte von Marlene tauchte auf. Es war die letzte, welche sie ihrer Tochter hatte zukommen lassen. Auf dem Urlaubsgruss abgebildet war in kitschroter Abendsonne der schiefe Turm von Pisa. „Ich freue mich auf ein Wiedersehen“, war zu lesen. In zittriger, fast unlesbarer Handschrift. „Ihr Absturz war auch der meine“, sagte sich die Tochter. Mit ihrem alten, vierzehnjährigen Kater Fritz im Reisegepäck war sie angesichts des plötzlichen Trauerfalles mit dem Zug aus Berlin in der Provinz angetroffen. Vor dem Eingang des Bahnhofes wartete Thea mit ihrem weinroten Auto, um die ihr immer ungeliebt und verhasst gewesene, jüngere Schwester abzuholen. „Ich nehme alles mit vollem Herzem“, postulierte die Ältere am Steuer, „schliesslich haben wir den ganzen Horror nur ihr zu verdanken.“ „Und auch unser Dasein“, dachte Phobie schweigsam, während sie die so lange vermisste, im Nebel liegende norddeutsche Landschaft betrachtete, die während der Autofahrt friedlich an ihr vorbeizog. Ihr fiel ein prägendes Erlebnis ein, welches die beiden Schwestern verband. Oder trennte. Je nachdem. Mit Gabel und Messer hatten sie sich bekriegt. In letzter Sekunde konnte Marlene das gefährliche Spiel zwischen den ungleichen Kindern beenden. Der Angreifer, so schien es der Frau heute, war nicht das kleine, süsse Nesthäkchen gewesen. „Sei nicht undankbar“, erwiderte sie mit einem sarkastischen Unterton in der Stimme, „denn du könntest immerhin das zweite Mal erben.“ Denn in den siebziger Jahren hatte Phobies Schwager Thea geheiratet und die landwirtschaftliche Kornbrennerei aus dem mütterlichen Besitz übernommen. Im Nachthemd hatte Marlene, vor dem Bett ihrer bereits schlafenden Tochter stehend, um eine Unterschrift gebeten, die Phobies Einverständnis mit Theas erstem Erbe besiegeln sollte. Nach dem Tod des Grossvaters hatte die Mutter selbst im Clinch mit ihren vier Geschwistern gelegen. Sich die Schnapsfirma unter den Nagel gerissen. Infolgedessen Michael seinen ersten, schweren Herzinfarkt erlitten, weil in der Rolle eines Landwirtes völlig überfordert. Hier kam Theas Ehemann als potentieller Nachfolger gerade zum rechten Zeitpunkt, denn er besass keine einträgliche Berufsausbildung. Gerne das aufmüpfige Begehren der 68ziger Generation hervorhebend hatte er sich wochenlang in einer leerstehenden Frankfurter Villa eingenistet und sich mit dem Verzehr von billigen Suppentüten über Wasser gehalten, berichtete der Schwager, bevor er auf eine Studentin der Ernährungswissenschaften traf.

      Phobie kroch unter den Küchentisch und sammelte die von Cecil heruntergewirbelten Papiere auf. An diesem Tisch hatten die beiden Schwestern in stiller Feindschaft gesessen, um die persönliche Geldbörse von Marlene zu plündern. „Nur gut, dass auf dem Sparkonto noch genug ist, damit sie ihre Beerdigung selbst bezahlen kann“, bemerkte die Jüngere zynisch, während Taler und Scheine auf die Tischplatte klimperten und flatterten. Thea hatte begonnen, den Besitz penibel zu halbieren. Erstarrt, sich in eine andere Welt wünschend blickte Phobie auf die zwei Geldhaufen. Wie sehr wir uns doch unterscheiden, dachte sie still, sie bewegt sich wie ein flinker Wiesel. Ich selbst dagegen komme mir vor wie ein trauriger Bär. „Von deinen Artikeln für eine jüdische Zeitung und deinen bunten Hörfunkbeiträgen wirst du jedenfalls nicht leben können“, weckte die Ältere barsch die Nachdenkende, „warum musste dir auch nach zwölf Jahren der Freund weglaufen!?“ Der Vorwurf roch nach einer Schuldzuweisung. „Der Schuft hat mich verlassen. Anbinden geht nicht“, trotzte Phobie, welche längst spürte, dass Thea Oberhand gewonnen hatte. Zornig dachte sie an das zwölfjährige Mädchen, das den halben Nachmittag in der Kreisstadt zugebracht hatte, um für die von ihr bewunderte, erwachsen wirkende Schwester in einem der zahlreichen Musikläden die Single „Je’taime“ mit dem zarten Stimmchen von Jane Birkin aufzustöbern. Für eine Party von wichtig tuenden Teenagern, welche im Keller des Elternhauses Protestplakate gegen den Vietnamkrieg pinselten. „Kauf‘ dir endlich einen BH!“, hatte die Ältere sie angeherrscht. Die schüchterne Phobie wusste, dass sie


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