Und leise schließt sich eine Tür. Thomas GAST
den Müll am Müllplatz ab, stritten sie sich, wühlten bis zu den Knien im Dreck unserer Zivilisation. Hungrig, gierig, ohne Hoffnung auf mehr als etwas Abfall, Unrat und Dreck. Neben ihnen kämpften verlauste Hunde um ein paar Knochen, um alte verweste Därme. Es stank erbärmlich!
Er war immer da, zumindest jeden Freitag!
Er stand auf einem Hügel, trug einen verbeulten Hut mit Löchern auf seinen kahlen narbigen Schädel. Auf seinen Schultern lag eine rote, feuchte und nach Schweiß und ranzigem Fett stinkende Decke. Eine, die auch in der aufgehenden immer heißer werdenden Sonne kaum trocken wurde, so muffig feucht war sie. In der Hand hielt er einen braunen Stock. Daran hing eine verbeulte Blechkanne. Der Bart - ungebändigt und Salz-Pfeffer, sprach von Würde und so stand er einfach da. Jeden Freitag zu gleichen Zeit. Er wartete.
Ich sah ihn an. Nur Würde fand ich in seinen Zügen. Ich war berührt, lächelte, winkte ihm zu. Er ignorierte mich. Er ignorierte jeden! Eine Woche später, gleiches Spiel. Wieder eine Woche später: Mein Entschluss mehr über ihn zu erfahren war gefasst. Ich versteckte mich. Als der Wagen, sowie auch die Meute der im Dreck Wühlenden am Horizont verschwunden waren und als sogar die Hunde vom Müll nichts mehr wissen wollten, verlor er seine Zurückhaltung.
Hunger! Er hatte Hunger. Und er würde sein Leben geben für ein Stück Seife, seinen kleinen Finger für einen Hut ohne Löcher. Er, den ich General Freitag nannte, wühlte nun genauso gierig im Dreck wie all die anderen vor ihm, nur dass er es in Würde tat – ohne dass jemand ihm dabei zusah, denn das war sein Wunsch. Niemand durfte ihn dabei sehen, niemals wollte er seine Würde verlieren.
Vielleicht ist es ein Privileg der Jugend dumm und unüberlegt zu handeln. Sei es! Ich erhob mich hinter meinem Versteck und zeigte mich. Nahm ihm damit seine Würde. Hätte ich es gewusst, so wäre dies nie geschehen, doch so…! Er hielt inne, fing meinen Blick auf. Im selben Moment geschah etwas tief in ihm. Sein Oberkörper straffte sich, sein Haar wurde eine Nuance weißer und ein Ausdruck tiefster Verzweiflung machte sich auf seinem schönen Gesicht breit. Es wurde zur Maske und zerfiel. Dann rannte er davon.
Nie wieder sah ich General Freitag, auch an einem andren Tag nicht. Heute noch denke ich oft ihn. Denke daran, dass ich nie selbst einen Vater hatte. Ich erinnere mich nur an ein Foto von ihm. Irgendwo dort in Deutschland, in einer Schublade lag es. Nie hatte ich die Chance ihn in meine Arme zu nehmen.
Und General Freitag?
Ich würde selbst im Müll wühlen, ohne Scham und alle Risiken dieser Erde auf mich nehmend, würde sterben nur um General Freitag (… oder meinen Vater!?) noch ein einziges Mal sehen zu dürfen, diese Chance noch einmal zu haben. Und ich stelle mir vor, ihm eine trockene, warme Decke zu geben, eine Mahlzeit mit ihm zu teilen, mit ihm Tee aus seiner verbeulten Blechkanne zu trinken und ihm zu sagen, dass Menschen wie er das Salz der Erde sind.
General Freitag ist nun tot, ich spüre es tief in mir. Es gibt wohl keine Moral hinter dieser Geschichte oder doch? Meine Moral war: Reiche dem Menschen der dich berührt die Hand bevor er sich aus deinem Leben stiehlt.
Lügen, nichts als Lügen!
„Eine Familie zu haben bedeutet glücklich zu sein.
Keine zu haben bedeutet verloren zu sein!“
(Hmong Zitat)
Über die Bedeutsamkeit der Familie sind wir uns alle einig. Sie ist Symbol für Geborgenheit und Wärme. Sie verkörpert das mit- anstatt das gegeneinander. Sie bedeutet Kraft. Es ist diese Kraft, die anspornt, über uns selbst hinaus zu wachsen. Von 1985 bis 1987 war ich in Kourou stationiert. Kourou ist eine kleine, gemütliche Stadt in Französisch-Guyana. Flankiert von Brasilien und Surinam bildet der Atlantik die nordöstliche Grenze dieser immergrünen Region. Das geheimnisvolle Tumuc-Humac Massiv mit seinen mal sanft, mal schroff ansteigenden Hügeln und seinen wilden, meist noch unerforschten Tälern, markiert seine Südgrenze. Insgesamt verbrachte ich 455 Tage im Urwald Französisch-Guyanas und was ich dort erlebte raubt mir heute noch den Atem.
Unsere Garnisonsstadt war damals Tummelplatz aller Rassen und Nationen. Überwiegend fanden sich hier einheimische Indianer wie Emerillons, Arawaks, Oyampis und Galibis aber auch Bush-Negroes, Noir-Marrons, Kreolen, Brasilianer, Kolumbianer, Palästinenser, Goldgräber und Glücksritter aus aller Herrenländer. Hier fanden sich Huren aus Santo Domingo und aus Berlin. Und es gab Vertreter des Volkes der Hmong, Exil Asiaten, deren Ursprung den Wissenschaftlern bis heute noch ein Rätsel ist, ein Volk, das in den bergigen Regionen Chinas, der Mongolei, in Thailand sowie in Sibirien und Vietnam zuhause war, ein heute zerrissenes Volk, das jedoch mit klugen Weisheiten aufwarten kann.
Es gab in Kourou auch Korsen, Franzosen und Deutsche. Meist waren es Techniker oder Ingenieure die für die Europarakete Ariane arbeiteten. Und es gab uns Fremdenlegionäre des 3. Regimentes. Die Zeit in La Guyane war die schönste und intensivste meines Lebens! Schön auch deswegen, weil ich zum ersten Mal so richtig weit weg war vom Rockzipfel meiner Mutter. Ich liebte meine Mutter, liebe Sie noch heute, doch das meine ich nicht. Weg vom Rockzipfel damit meine ich, weg vom Pfad den der brave, folgsame und immer pflichtbewusste Mensch beschreitet. Schön auch weil ich, obwohl bereits dreiundzwanzig, erst dort zum Manne wurde. Ich spreche nicht nur von Mut, vom Überwinden der Angst oder davon, dem Tod ins Angesicht zu sehen. Die Rede ist auch nicht von Frauen. Mann wurde ich deswegen, weil ich hier im Dschungel das Lügengerüst abstreifte, welches mir bis dahin noch wie eine zweite Haut eng am Körper haftete. Irrtümlicherweise hatte ich nämlich bis dato geglaubt, ein Mann müsse stark sein.
Ich dachte er müsse in allen Lebenslagen und um jeden Preis seinen Mann stehen. Zu Unrecht meinte ich, dass die Welt dem gehört, der für alle Fragen sofort die richtige Antwort parat hat. Wer Schwächen zeigt und in wichtigen Dingen nicht die erwartete Leistung bringt – so hatte man es mir in meiner Vor- Legionszeit gesagt, war ein Versager, ein erbärmlicher, unbedeutender Wicht.
Misfits. Non conforme. Nicht gesellschaftsfähig!
Erwartungen anderer Menschen nicht erfüllt? Erbärmlicher Versager!
Man hatte mir bis dato auch die wohl allgemein gängige Anschauung aufdrängen wollen, dass ein Überleben nur in der Herde möglich sei, dass in unserer leistungsorientierten Welt stille Einzelgänger wie ich einer war, sang- und klanglos untergehen, in einer Welt, in welcher – so das allgemeine Denken – der, der am lautesten schreit mehr Aufmerksamkeit und somit mehr Achtung und mehr Chancen im Leben geschenkt bekommt.
Lügen nichts als Lügen!
Tief im Dschungel Guyanas wurde ich Mann, weil ich auch lernte, dass man eben nicht immer alles mit Worten erklären kann oder muss. Ich lernte zu handeln, schnell und präzise. Ohne Worte zu verschwenden. In dieser harten Männerwelt lernte ich ein Träumer sein zu dürfen ohne dass die Welt um mich herum gleich zusammenbrach oder aus den Fugen geriet. Es gab Momente, in denen es einfach nur schön und befreiend war, schwach zu sein, die Flügel hängen zu lassen. Ein anderer Legionärskamerad sprang in die Bresche wenn ich mich mal in mein Schneckenhaus zurückzog. Ja, wir wachten, einer über den anderen!
Sehr schnell wurde mir bewusst, dass in vielen Fällen schwach sein auch tolerant sein bedeuten konnte. Nichts brüskieren. Kein Drängen auf schnelle Entscheidungen, sondern ein Zulassen derselben sodass jedes Ding sich nach seiner Eigenart selbst entfalten kann. Das war unsere Devise. Langsam, still wie Ralph Vaughan Williams und Edward Elgars „the lark ascending!“
Ich lernte auch, dass „… alle Erwartungen erfüllen …“ den eigenen Tod oder schlimmer noch, den Tod anderer bedeuten konnte und dass „… Leistung bringen, um jeden Preis voraus planen und der Zeit weit vorausdenken …“ eine menschliche Torheit war. Eine, die von der Natur sofort unbarmherzig