Mannesstolz. Georg von Rotthausen
einmal und kehrt aus der Traumwelt in die noch stille Wirklichkeit des Morgen zurück. Das Haus ist noch ganz ruhig. So wie es sich in einem Haus in dem kleinen, ruhigen Ostseebad gehört.
Sie steht auf, kämmt sich die Haare sorgfältig durch. Nicole geht, nackt wie sie ist, in die Küche, läßt die Jalousie hochlaufen und trinkt ihren morgendlichen Orangensaft am Fenster stehend. Sichtlich besser gelaunt schaut sie anschließend in den Spiegel, nickt sich selbstzufrieden zu; sie schaut sich um, entdeckt ihren weißen Bademantel, zieht ihn über, schlüpft in ihre Strandsandalen, steckt ihr kleines Portemonnaie ein und verläßt das Haus.
Es ist noch niemand auf den Straßen. Die Bäckereien öffnen erst um sieben; den Brötchenkauf plant sie für den Rückweg. Sie geht die Strandstraße entlang, kommt an dem schön renovierten Theehaus vorbei, passiert das Seemannsdenkmal, wo sie kurz stehen bleibt und in die Morgensonne blinzelt. Sie reckt und streckt sich, als wäre sie gerade aufgestanden. Dann steckt sie beide Hände in die Bademanteltaschen und schlendert vorbei an den kleinen Becken mit den plätschernden Wasserspielen über die Bodensteine mit dem Wellenmuster weiter Richtung Haupteingang Promenade und Strand, wobei sie sich rechts hält.
Nicole biegt um die Ecke des Strandcasinos, bleibt kurz stehen, sieht sich um, stellt mit einem feinen Lächeln fest, daß sie allein ist, löst den Gürtelknoten, faßt in Brusthöhe die Aufschläge und öffnet sie, als wolle sie die ersten Sonnenstrahlen einfangen. Die ersten Schwalben sausen im Tiefflug über die Promenade und dem Sand zwischen den Strandkörben.
Nicole bewundert die Manövrierfähigkeit der pfeilschnellen kleinen Vögel, sieht ihnen einige Augenblicke zu. Noch sitzen gelassene Möwen auf den Strandkörben, einige stolzieren durch die Korbreihen, um nach Essensresten zu suchen, die die Badegäste am Abend zuvor absichtlich in den Sand geworfen hatten und bei der ersten Aufpickrunde übersehen worden waren.
In Scharen sitzen große weiße Möwen und die kleineren Schwarzkopfmöwen auf der Seebrücke. Die ersten Gäste werden sie verscheuchen und auf Abstand halten. Wehe, wenn diese Möwen es lernten, den Menschen die Eistüten aus der Hand zu picken, wie die aufdringliche Bande auf Sylt es bereits gelernt hat.
Nicole vergewissert sich erneut, unbeobachtet zu sein, läßt die Aufschläge los, nimmt leicht Anlauf und springt auf den Sand, der noch etwas feucht von der Nacht ist, und strebt einem Strandkorb in der ersten Reihe zu. Einige der Möwen fliegen auf und machen sich davon. Beim Näherkommen sucht sie etwas in den Taschen, bleibt kurz stehen, prüft nochmals − und murmelt leise vor sich hin: „Jetzt habe ich doch den Schlüssel vergessen”, geht aber weiter und zwar gezielt auf den Strandkorb H 55 zu. Nicole wundert sich im Stillen, daß links neben dem etwas nach rechts gedrehten Korb das Gitter steht, will aber nicht weiter darüber nachdenken, läßt den Bademantel heruntergleiten, hängt ihn am Gitter auf und geht weiter zur Wasserlinie.
Nicole schaut nochmals links und rechts, sich absichernd, daß sie allein ist, prüft mit den Füßen die Wassertemperatur und bekommt eine leichte Gänsehaut.
„Ach was”, macht sie sich selber Mut und geht hinein. Es kostet sie etwas Überwindung, aber mit leisem Juchen schaufelt sie sich das frische Wasser an den Oberkörper, ihre schönen Brustwarzen sind augenblicklich aufgerichtet und fest. Dann taucht sie kurz unter, kommt wieder hoch und ist schließlich so weit fortgekommen, daß sie mit einem Sprung nach vorn in das ruhige Ostseewasser gleitet und kraulend Distanz zum Strand gewinnt.
Nicole zieht weiter draußen einige Bahnen, kehrt zur Sandbank zurück, wo sie in Hocke kurz verweilt und die verwaiste Badeinsel betrachtet, auf der sie zum Mondscheinschwimmen einen einzigen schönen Mann zu treffen trachtete, der ihrer offensichtlich nicht gedacht und sich stattdessen mit vier Kameraden getroffen hatte. Sie nimmt sich vor, ihn deshalb energisch zur Rede zu stellen. Jetzt sitzen dort nur einige Möwen, die die nackte Schöne zwar im Auge behalten, aber für ihre Erotik ganz sicher keinen Blick haben. Was zählt menschliche Schönheit für eine Möwe? Die wird erst interessant, wenn sie ihr einen Keks entgegenhält.
Nicole wendet sich dem Ufer zu, schwimmt noch einige Züge, richtet sich auf − und entdeckt, daß aus ihrem Strandkorb zwei Beine herausragen, als hätte sich jemand hineingesetzt und wäre eingeschlafen. Sie verläßt die See, nimmt ihre am Körper klebenden Haare mit der Rechten zusammen, läßt sie durch ihre geschlossene Hand laufen, um das Wasser herauszudrücken und läßt sie überrascht los, denn sie bemerkt beim Näherkommen, daß es sich um Männerbeine handelt. Nicht behaart, aber doch Männerbeine. Zu einer anderen Tageszeit hätte sie vielleicht gedacht „Hm, schöne, trainierte, lange Beine, da hängt bestimmt ein großer hübscher Kerl dran und noch ‘was anderes Großes”, aber daran denkt sie jetzt am frühen Morgen, einsam am Strand, überhaupt nicht. Um nicht Opfer einer unerwünschten Betrachtung ihrer Nacktheit zu werden, unterläßt sie jeden Anruf, geht seitwärts auf ihren Korb zu, nimmt ihren Bademantel vom Gitter, wirft ihn über, bindet den Gürtelknoten, geht herum, holt Luft, um ein herzhaftes „Sagen Sie mal, was machen Sie in meinem Korb?” anzubringen − reißt schreckgeweitet ihre Augen auf und vergißt ihre Worte in einem gellenden Schrei.
*
Auf dem mittlerweile belebten Strand stehen zahlreiche Personen um den Strandkorb H 55 herum. Nebenan, im H 76, bemüht sich eine junge Kriminalbeamtin um die schöne Frühschwimmerin, die noch immer völlig aufgelöst ist. Ein Notarzt fragt sie:
„Möchten Sie ein Beruhigungsmittel?”
Sie schüttelt mit dem Kopf und macht eine abwehrende Handbewegung. „Nein, nein, es geht bald wieder.” Sie zittert am ganzen Körper, ist mit verschränkten Armen ein einziges ‚,Geht doch alle weg!“
Der Kriminalkommissar Frederic Langeland, ein großer blonder Mann von 30 Jahren, versucht, Neugierige fernzuhalten. Er ist sonst ein fröhlicher Typ, locker, tolerant, läßt auch mal Fünfe gerade sein, aber die Sensationsneugier einiger Leute geht ihm an diesem Morgen auf die Nerven. Wer genau hinhört, erkennt einen leichten, einen wirklich nur leichten dänischen Akzent.
„Herrschaften, gehen Sie zu Ihren Körben oder in Ihre Quartiere. Außer einem Toten gibt es hier nichts zu sehen” und macht wegwinkende Handbewegungen. Als einige Kinder zu nahe kommen wird er energisch und lauter „… und halten Sie Ihre Kinder fern, das ist hier kein Spielfilm!”
„Na hören Sie mal, wofür zahlen wir denn Kurtaxe?”, protestiert ein bauchiger Mann.
„Sicher nicht, um eine Leiche anzusehen und unsere Arbeit zu stören” − und sein Ton wird deutlicher − „Entfernen Sie sich!”
Langeland beobachtet kopfschüttelnd, wie der Dicke sich grummelnd zurückzieht. Auch andere Neugierige verlaufen sich, von Uniformierten mit ausgebreiteten Armen zurückgedrängt.
Recht aufgeregt kommt eine weibliche Person gehobenen Alters heran:
„Was ist hier los? Wer hat hier das Kommando?“
An der noch nicht vollständigen Absperrung versucht einer der Beamten aus Grube gar nicht erst, das nahende Ungewitter aufzuhalten, denn er weiß, was, bzw. wer da kommt, und macht angesichts der ihm entgegengeworfenen gebieterischen Handbewegung „Weg da!” schleunigst Platz. Sie stürmt an Langeland vorbei, der ihr mit Stirnrunzeln nachsieht. Dann wendet er sich dem gehorsamen Beamten mit stumm-fragend erhobenen Händen zu und formuliert lautlos „Wer ist das?”, worauf mit lautloser Lippenformulierung zurückkommt „Die Bürgermeisterin”; dazu die Handbewegung, er solle bloß nichts sagen.
Das „Ungewitter” ist 63 Jahre alt, von asketischer Figur, mittelgroß, mit einer flotten Kurzhaarfrisur, die fast jedem Sturm standhält, auch im Gemeinderat oder im Landratsamt, wo immer es stürmisch werden kann; einmal gewuschelt − wieder in Ordnung. Man sieht es gerade nicht, aber sie kann sehr freundlich dreinschauen − wenn sie will, aber sie kann auch verbal draufhauen, wie Blücher bei Waterloo. Keine Gefangenen! Sie drückt sehr viel für ihren Ort durch, plündert jeden erreichbaren Zuschußtopf. Als sie bei der Einweihung der neuen Promenade 2003 einen Staatsminister aus Kiel unentrinnbar vor sich hatte, da machte sie ihm coram publico schon klar, wieviel Geld sie für die neue Seebrücke benötigte, was der dann auch mit einem breiten Schmunzeln und einem Beckenbauer’schen