Mord im Weinberg. Christine Zilinski
Erde, ihre Füße und den Boden vor sich zu konzentrieren. Als sie endlich wieder den Gehweg erreicht hatten, atmete Charlotte einmal tief durch. Sie musste die Polizei rufen. Mit zitternden Fingern tastete sie nach dem Handy, das sie in einer Armbinde um ihren rechten Arm trug. Sie zog den Reißverschluss der Binde auf und holte es heraus. Im nächsten Moment verharrte sie jedoch mit dem Telefon in der Hand. ‚Soll ich jetzt direkt Jankovich anrufen? Oder lieber die 110?‘
Wenn sie direkt den Kommissar anrief, würde sie ihn wahrscheinlich an seinem freien Tag stören. Dass sie ihn wegen eines Leichenfundes am Wochenende anrief, passierte schließlich nicht zum ersten Mal. Und sie war sich nicht sicher, ob er es ihr nicht langsam übelnehmen würde, wenn sie ihn immer persönlich anrief, weil sie mal wieder über einen Toten gestolpert war. Auch wenn Charlottes erster Impuls durchaus der war, den smarten Kommissar anzurufen, um seine Stimme wiederzuhören. Oder ihn sogar wiederzusehen, wenn er zum Leichenfundort hinausfahren würde. Zu ihr. Aber dann war da noch Johannes .... ‚Wenn ich Jankovich anrufe, wird Johannes mich fragen, warum ich nicht lieber die Polizei angerufen habe. Das endet dann wieder in einer unnötigen Diskussion‘, kam es ihr in den Sinn. Im selben Moment realisierte Charlotte, dass sie mit ihren Gedankenschlössern nur Zeit vertrödelte. Wertvolle Zeit. ‚Reiß dich zusammen!‘, schalt sie sich. Im selben Moment zog Dostojewski winselnd an der Leine. Er wollte zurück zur Leiche. Das zwang Charlotte endgültig zum Handeln. ‚Mach einfach, was jeder andere in deiner Situation tun würde‘, dachte sie streng und entschied sich schließlich für den Notruf.
Eine Viertelstunde später hockte Charlotte auf einem Wegstein am Rand der Rebstöcke, in denen der Tote lag. Die Frau aus der Notrufzentrale hatte Charlotte gebeten, sich in der Nähe der Leiche aufzuhalten, um die bald eintreffenden Kollegen zum Toten zu lotsen. Und, um ihre Zeugenaussage zu machen. Dostojewski hatte sich seufzend neben Charlotte auf den Boden gelegt und schien zu dösen. Offenbar hatte er sich damit abgefunden, nicht mehr zu dem interessanten Geruchsträger in der Senke zurückzudürfen. ‚Deine Seelenruhe hätte ich gern‘, dachte Charlotte. In ihrem Kopf herrschte das pure Chaos. ‚Warum zu Hölle finde ich schon wieder eine Leiche? Bin ich eigentlich verflucht? Das kann doch einfach nicht wahr sein!‘ Und dann überlegte sie unvermittelt: ‚Hat Dostojewski eigentlich irgendwelche Spuren zerstört?‘
Bei dem Gedanken an die Senke tauchte vor ihrem inneren Auge zum gefühlt 100sten Mal unvermittelt das Bild des Toten auf. Die leeren Augenhöhlen, die himmelwärts starrten. Der dunkle Fleck, der sich um seine Herzgegend deutlich gegen sein helles Hemd abgesetzt hatte. ‚Ein natürlicher Tod war’s definitiv nicht‘, schoss es ihr durch den Kopf. Während sie auf dem Stein hockte, passierten sie ein paar frühe Spaziergänger. Aber keiner sprach sie an und fragte, ob alles in Ordnung war. Abwesend bemerkte Charlotte, dass auch einige Hunde an ihr vorbeikamen, und dass sie den Toten ebenfalls wittern mussten. Doch alle Gassigänger hatten ihre Hunde angeleint, sobald sie den mächtigen Dostojewski neben Charlotte erblickt hatten. So zerrten die Hunde lediglich an der Leine, als sie an der Stelle vorbeikamen.
Endlich hörte Charlotte, wie sich Autos näherten. Mit klopfendem Herzen hob sie den Blick und sah, wie zwei Streifenwagen ohne Blaulicht auf sie zufuhren und direkt neben ihr anhielten. Hinter ihnen tauchte ein Notarztwagen auf. Der blockierte endgültig den Weg, sodass vorerst keine Fußgänger vorbeikommen konnten. Fast zeitgleich stiegen aus den Autos drei Beamte und eine Notärztin aus. Die Polizisten setzten sich ihre Mützen auf und liefen mit ernster Miene auf Charlotte zu. Ihnen folgte die Ärztin. Einer der Beamten war ein junger, großgewachsener Mann. Er gab Charlotte die Hand. „Guten Tag, Sie sind Frau Bienert?“ Charlotte nickte wortlos. „Wo ist der Tote?“ Sie wandte sich um und wies mit dem Arm in die Richtung. „Da drin, etwa 100 Meter weit von hier.“ „In Ordnung. Haben Sie etwas berührt? Oder der Hund?“ Schuldbewusst nickte Charlotte. „Ja, ich fürchte, der Hund hat an der Leiche geschnüffelt. Ich hab leider ein bisschen gebraucht, bis ich ihn eingeholt habe. Aber ich habe nichts angefasst.“ In geschäftsmäßigem Tonfall sagte der Polizist, während er auf die Notärztin und seine zwei Kollegen wies: „OK, Sie gehen zur Leiche, stellen den Tod fest und ihr sichert den Leichenfundort und sperrt die Straße ab.“ Einer der Polizisten und die Ärztin nickten wortlos und liefen in Richtung der Leiche los. Der zweite Beamte lief zum Auto und holte ein rot-weißes Absperrband hervor. Der junge, große Polizist wandte sich wieder Charlotte zu und sagte: „In Ordnung, der Kriminaldauerdienst ist gleich da. In der Zwischenzeit würde ich gerne schon mal Ihre Aussage aufnehmen. Fühlen Sie sich dazu imstande?“ Überrascht über die empathische Frage nickte Charlotte und sagte: „Natürlich. Klar.“
Einige Zeit später wimmelte es rund um den Leichenfundort vor Beamten. Jenseits der Absperrung tummelten sich Spaziergänger, die neugierig ihre Hälse reckten. Soeben bahnte sich ein Bestattungswagen langsam seinen Weg durch die Fußgänger. Als er neben dem Notarztwagen hielt, stiegen zwei schwarz gekleidete Männer aus und liefen zum Heck ihres ausladenden Wagens. Zügig holten sie einen schmalen Zinksarg aus dem Auto und einer der Beamten wies ihnen den Weg hinein in die Rebstöcke. Charlotte beobachtete alles wie in Trance, während sie darauf wartete, endlich nach Hause gehen zu dürfen. Der Beamte, der ihre Aussage aufgenommen hatte, hatte sie jedoch gebeten, zu warten. „Nur für den Fall, dass sich noch Fragen ergeben. Sollte aber nicht lange dauern“, hatte er hinzugefügt. Charlotte lief auf und ab; ihr war durch die lange Warterei kalt geworden. Schließlich trug sie nur ihre dünnen Jogging-Klamotten. Ihr Kreislauf war inzwischen auch schon wieder heruntergefahren. Sie sehnte sich nach einer heißen Dusche. Der winselnde Dostojewski drückte sich an ihre Beine, und Charlotte bekam augenblicklich Mitgefühl mit dem alten Hund: Er musste durstig sein. Sie beschloss, einen der Beamten nach etwas Wasser für sich und den Hund zu bitten, als endlich der hochgewachsene Polizist von vorhin auf sie zukam und sagte: „Danke, Frau Bienert. Sie können gehen. Ihre Personalien habe ich ja, falls ich oder meine Kollegen noch Fragen haben, wenden wir uns an Sie. Danke, dass Sie gewartet haben.“ Charlotte dachte: ‚Was hatte ich denn für eine Wahl?‘, doch sie nickte bloß und wandte sich ab. „Ach Moment noch“, hielt sie der Mann zurück. „Hier haben Sie die Adresse eines Notfallseelsorger-Verbandes, falls Sie Hilfe brauchen, um ... den Leichenfund zu bewältigen.“ Er hielt ihr eine Visitenkarte entgegen. Charlotte hätte beinahe erwidert: „Das ist nicht meine erste Leiche, aber danke.“ Doch sie verkniff es sich, nickte wieder nur und sagte: „Danke. Dann gehe ich mal.“ Erleichtert wandte sie sich ab, tätschelte Dostojewski aufmunternd am Hals und sagte: „Komm, mein Junge, wir gehen.“
Kapitel 5
Pflichtbewusst rief sie auf dem Weg zurück in ihre Wohnung Sanne an, um ihr vom neuesten Todesfall zu berichten. „Oh Gott, Charlotte! Das gibt’s doch nicht! Bist du verflucht, oder was?“, rief Sanne schrill in den Hörer. Charlotte schnaubte. „Ohne Scheiß, das habe ich mir auch schon überlegt.“ Charlotte klagte ihrer Schwester eine Weile lang ihr Leid, die ihr verständnisvoll zuhörte. Als Charlotte klar wurde, dass sie Sanne schon seit geraumer Zeit vom Wochenenddienst im Zoo abhielt, verabschiedeten sich die beiden. Anschließend versuchte Charlotte, Johannes zu erreichen, doch bei ihm ging nur die Mailbox ran. Da es ihr zu blöd war, ihren Leichenfund als Voicemail bei ihrem Freund zu hinterlassen, schrieb sie ihm eine kurze SMS: ‚Leider musste ich schon wieder die Polizei rufen. Dostojewski hat heute Morgen beim Gassigehen in den Weinbergen einen Toten gefunden. Melde dich, sobald du das hier liest.‘
Kaum zuhause angekommen, ließ sie Dostojewski in Richlings Wohnung. Sie wusste, dass dort immer ein gefüllter Wassernapf für ihn bereitstand. Guten Gewissens konnte sie in ihre eigene Wohnung hochlaufen, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Oben angekommen zerrte Charlotte eilig alle Klamotten von sich, warf sie achtlos auf den Boden und stellte sich unter die Dusche. Sie drehte das Wasser so heiß, wie sie es ertragen konnte. ‚Tut das gut‘, dachte sie wohlig und ließ es minutenlang über ihren Rücken laufen. Langsam spürte sie, wie ihre kalten Gliedmaßen wieder auftauten. Als ihre Haut rot wurde und anfing zu prickeln, dachte Charlotte widerwillig, dass sie jetzt wohl das Wasser abdrehen sollte.
Ding Dong.