Pitaval des Kaiserreichs, 1. Band. Hugo Friedländer

Pitaval des Kaiserreichs, 1. Band - Hugo Friedländer


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      Frau Biedermann, Portiersfrau des Hauses Kaiserin-Augusta-Straße 74, bekundete: Sie habe die Gräfin schon am Abend des 26. Januar wiederholt stöhnen gehört; sie hatte am folgenden Tage keinen Zweifel, daß die Gräfin geboren habe. Vorher habe sie Kindergeschrei nicht gehört.

      Im weiteren Verlauf der Verhandlung bat Graf Hektor v. Kwilecki folgende Erklärung abgeben zu dürfen:

      1. Nicht wir, sondern die angeklagten gräflichen Eheleute haben es für angezeigt erachtet, die Entscheidung über die Legitimität des Kindes den Gerichten zu übertragen, indem sie den Vorschlag meines Vaters, die Angelegenheit in dem diskreten Rahmen einer Erörterung im engen Familienkreise zu prüfen, abgelehnt hatten. Nachdem aber die Sache auf Anregung des gräflichen Ehepaares zur öffentlichen Besprechung bei Gerichten gelangte, mußte man mit logischer Konsequenz verlangen, daß auch auf dieselbe Weise das gesamte uns durch dritte Personen enthüllte Material zur Aburteilung gelange.

      2. Trotz meiner hier wiederholt abgegebenen Versicherung, daß meine Tätigkeit nicht durch Rücksichten auf pekuniäre Vorteile veranlaßt war, sind Zweifel an der Aufrichtigkeit meiner Worte erhoben worden. Um einen klaren Beweis für meine Absichten zu liefern, erkläre ich hiermit feierlich, daß ich auf das Majorat Wroblewo, falls die Frage an mich herantreten sollte, für meine Person verzichten werde.

      Professor Dr. Dührßen gab sein Gutachten dahin ab: Ich kann nicht den Beweis liefern, daß die Frau Gräfin nicht geboren hat, ich kann aber nicht annehmen, daß gerade in diesem Fall eine Reihe von besonderen Umständen zusammengetroffen sein sollte, die eine Entbindung nach Schema F für wahrscheinlich erscheinen ließen. Ich glaube daher nicht, daß die Gräfin 1896 schwanger war und 1897 geboren hat.

      Professor Dr. Freund (Straßburg): Daß eine 50jährige Frau noch schwanger wird, ist nichts Wunderbares. Es kommt nicht auf die Zahl der Jahre an, sondern darauf, daß die Frau noch ihre Menstruation habe. Medizinisch ist gegen die Schwangerschaft oder gegen die Geburt nichts Positives vorzubringen. Mit Vermutungen will ich nicht operieren.

      Gerichtsarzt Medizinalrat Dr. Störmer trat im wesentlichen dem Gutachten des Prof. Dr. Dührßen bei.

      Auf Anregung des Gerichtsarztes Medizinalrats Dr. Störmer wurde beschlossen: eine Kommission, bestehend aus Medizinalrat Dr. Störmer, Professor Dr. Straßmann und dem Porträtmaler Professor Vogel mit der Prüfung der Ähnlichkeitsfrage zu betrauen.

      Rechtsanwalt Dr. Filimowski (Krakau): Er sei durch Dekret des k.k. Bezirksgerichts in Krakau am 1. April 1903 zum Vormund des kleinen Franz Pracza, alias Grafen Josef Adolf Stanislaus v. Kwilecki ernannt worden. Die angebliche Mutter des Knaben, Frau Cäcilie Meyer, habe ihm gesagt: Sie wurde es lieber sehen, wenn der Knabe ein ehrsamer, wenn auch armer Mann werde, als ein Eindringling in eine gräfliche Familie.

      An einem der letzten Verhandlungstage erstattete die Ähnlichkeitskommission, zu der auch der Leiter des polizeilichen Erkennungsdienstes nach dem Bertillonschen System, Polizeiinspektor Klatt, hinzugezogen war, ihr Gutachten. Außer dem kleinen Grafen und seinem angeblichen um ein Jahr älteren, aber kleineren Bruder, Felix Pracza, die beide, in Weiß gekleidet, von einem Gerichtsdiener in den Saal geführt wurden, nahmen als Vergleichsobjekte vor dem Richtertisch Platz: die Tochter des angeklagten gräflichen Ehepaares, Graf Brinski, Bruder der angeklagten Gräfin, und Frau Cäcilie Meyer. Diese bemerkte auf Befragen des Vorsitzenden unter Tränen: das von ihr verkaufte Kind habe sie nur etwa 4 1/2 Wochen gesehen; seitdem habe sie es nicht mehr vor Augen bekommen. Sie behauptete, die Ähnlichkeit zwischen ihrem früher geborenen Sohne und dem jüngeren kleinen Grafen sei ziemlich bedeutend.

      Gerichtsarzt Medizinalrat Dr. Störmer erstattete darauf sein Gutachten:

      Die körperlichen Details, die zum Vergleiche herangezogen wurden, seien gewesen: die Kopfform, die Form des Gesichts, das Verhalten der Jochbeine, die Gestalt der Ohren, Wölbung, Verlauf und Behaarung der Augenbrauen, das Verhalten der Regenbogenhäute, Gestalt und Behaarung der Nasenwurzel, die Form der Nasen, die Schwingungslinien und Fülle der Lippen, die Form der Mundwinkel, der Verlauf der Mundspalte, die Bildung der Zähne, Gestalt des harten und weichen Gaumens, die Konfiguration und Richtung des Kinns. Sodann sei die Gestalt der Hände, Form und Länge der Finger und Nägel, der Verlauf der Hautfurchen in den Handtellern sowie die Wölbung des Fußes, endlich auch der Gang geprüft worden. Zum Typus der gräflich Brinski-Kwileckischen Familie gehören in erster Linie die mäßig längliche Gesichtsbildung und eine ziemlich lange, ein wenig gebogene und spitze, an der Nasenwurzel schmale Nase. Bei dem kleinen Grafen finden sich Anklänge der Ohrform an die der Frau Gräfin und der Komtessen, wenn auch von einer Identität der Ohrform des Knaben mit irgendwelchen Mitgliedern der gräflichen Familie ganz bestimmt nicht die Rede sein kann. Außerdem zeige der Knabe auch in der Art der Behaarung der Augenbrauen eine starke Anlehnung an die Familie der Frau Gräfin, er habe auch mit ihr die mäßige Behaarung der Nasenwurzel gemeinsam, endlich auch die dunkelbraune Farbe der Regenbogenhaut. Schließlich ähnele auch die Kinnbildung des Knaben derjenigen der Komtessen ganz auffallend; jedoch unterscheide sich das Kinn des Knaben von dem der Gräfin, wobei jedoch zu beachten sei, daß das Kinn bei älteren Personen stärker hervortritt. Von dem v. Zieglerschen Ohr unterscheide sich das des Knaben Joseph Stanislaus in wesentlichen Punkten Einen Familientypus für die drei zum Vergleich vorhandenen Mitglieder der Meyerschen Familie zu finden, sei nicht gelungen. Bezüglich der Ohren bestehe zwischen den drei Personen eine große Verschiedenheit. Ein Vergleich der Frau Meyer mit ihrem Sohne Felix sei dadurch besonders schwierig, daß das Skelett dieses Kindes durch schwere englische Krankheit ganz wesentliche Veränderungen erfahren hat. Aus demselben Grunde sei auch ein Vergleich dieses Knaben mit dem von Rachitis völlig verschonten Kinde Joseph Stanislaus gewagt. Um so mehr müsse es befremden, daß bei beiden Knaben genau die gleiche fehlerhafte Bildung im Bau der Genitalorgane wahrgenommen worden ist, doch sei der vorgefundenen Mißbildung kein allzu großer Wert beizulegen, denn die Erfahrung der Kinderärzte lehre, daß im Alter von sechs bis sieben Jahren der in Rede stehende Zustand doch noch dann und wann, jedenfalls nicht allzuselten, zur Beobachtung kommt, so daß das Vorhandensein gerade dieser Mißbildung bei beiden Knaben immerhin ein Zufall sein kann. Sonstige anatomische Obereinstimmungen zwischen dem kleinen Grafen und dem kleinen Felix Pracza finden sich noch in dem Verlauf der Handlinien und in der Nase, soweit die breite Nasenwurzel in Frage kommt, die ganz und gar von dem Kwileckischen Typus abweiche. Augenfällige Unterschiede zeigen sich bei dem durch Ecke und Gegenecke gebildeten Schnitt am Ohr. Der Gang der beiden Kinder könne wegen der Knochenverkrümmung bei dem Felix Pracza überhaupt nicht miteinander verglichen werden, was um so mehr zu bedauern sei, als gerade der Gang bei dem Joseph Stanislaus recht charakteristisch sei.

      Ziehe man nun das Fazit aus all diesen Betrachtungen, so ergebe sich, daß zwar eine unverkennbare Ähnlichkeit zwischen den Gesichtszügen des Joseph Stanislaus und denen des Grafen und der Komtessen bestehe, und daß auch hinsichtlich der Ohrformen Anklänge zwischen dem Kinde und der Gräfin vorhanden seien, aber auch nur Anklänge, keineswegs eine Identität. Demnach habe die anatomische Untersuchung keine Anhaltspunkte für die sichere Zusammengehörigkeit des Knaben Joseph Stanislaus zu der gräflichen Familie ergeben, andererseits können die Sachverständigen aber auch nicht die Zusammengehörigkeit des umstrittenen Knaben zu der Familie der Frau Meyer sicher beweisen.

      Der zweite Gutachter, Gerichtsarzt Medizinalrat Professor Dr. Straßmann schloß sich in den Einzelheiten dem Vorgutachten an. Die Kommission sei vor eine Aufgabe gestellt gewesen, wie sie wohl kaum jemals einem Gerichtsarzt vorgelegt worden sei. Es fehlten hier die Grundlagen für ein wissenschaftliches Gutachten und man könne hier auch nur ein Wahrscheinlichkeitsgutachten erwarten. Das Urteil über Ähnlichkeit sei ein sehr subjektives und es können Irrtümer vorkommen. Eine sichere Unterlage bilde schon das Vorhandensein von besonderen Familieneigentümlichkeiten oder von Abnormitäten. Er komme zu folgendem Ergebnisse: einerseits sei eine allgemeine Ähnlichkeit dieses Knaben mit dem anderen oder mit der Frau Meyer nicht vorhanden. Andererseits falle ins Gewicht, daß die Genitalien der beiden Kinder dieselbe Abnormität zeigen. Das Vorkommen dieser Abnormität sei zwar nichts Außergewöhnliches, auffallend sei es aber, daß sie gerade bei diesen beiden Knaben gleichzeitig vorhanden sei. Eine Abschätzung, welches dieser beiden Momente gewichtiger sei, lasse


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