Käpt'n Sansibo — Die Canneloni auf fernen Meeren. Micha Luka
starrte angestrengt aufs Meer hinaus.
»Im vorderen Boot sind nochmal vier Mann und im hinteren sieben«, brummte er. Living Tom hob seinen Kopf. Er hatte dem Mann etwas ins Ohr geflüstert, doch der rührte sich immer noch nicht. Toby hatte das beobachtet und wunderte sich.
»Mit Flüstern werden Sie den nicht wachkriegen«, sagte er zu Living Tom, doch der beachtete ihn gar nicht. Stattdessen fragte er Käpt’n Sansibo:
»Wie heißt eigentlich Ihr Schiff, Käpt’n?«
»Du bist auf der Canneloni und ich bin Käpt’n Sansibo!«, antwortete er und sprang vom Kajütendach herunter. Living Tom war unterdessen etwas mühsam aufgestanden und lehnte nun auf schwachen Beinen an der Reling. Der Käpt’n ging direkt auf ihn zu.
»Wer ist der Kapitän auf der Molly Black?« Vielleicht kenn ich ihn ja.« Living Tom wischte mit der Hand müde über sein Gesicht. Dann drehte er sich zum Meer um. Er schien zu überlegen. Die beiden Boote kamen langsam aber sicher näher.
»Käpt’n Arbuk war es«, sagte er leise. »Aber ich hab keine Ahnung, ob er überlebt hat, Käpt’n.«
»Das werden wir bald wissen«, sagte Käpt’n Sansibo. In Tobys Ohren hörte sich das beinahe wie eine Drohung an.
Er beobachtete, wie Kullerjan einen Matrosen nach dem anderen aus dem Boot heraufholte und Bullerjan übergab. Der legte sie nebeneinander auf das Deck. Kullerjan machte das leere Boot an der Canneloni fest. Bullerjan holte einen Eimer Wasser aus der Kombüse und leerte ihn kurzerhand über den Männern aus. Das brachte sie wieder zu sich. Sie prusteten und schnaubten und schnappten nach Luft. Sie setzten sich nacheinander auf und schauten sich mit Augen, die in der grellen Sonne blinzelten, um. Aber sie sagten keinen Ton, kein einziges Wort. Toby fiel auf, dass einer von ihnen keinen Bart hatte. Er bemerkte einen kleinen Schnitt an seinem Kinn. Käpt’n Sansibo verfolgte durchs Fernrohr, wie die anderen Boote näherkamen. Deshalb behielt Toby seine Beobachtung vorerst für sich. Er schlich vor zum Bug, wo Flo sich, unbemerkt von allen, immer noch im Schatten hielt. Toby wusste nicht, warum, aber er hatte ein merkwürdiges Gefühl im Bauch.
»Flieg davon, Flo, in diese Richtung«, flüsterte er dem blauen Flamingo zu und deutete mit dem Finger übers östliche Meer. Dort hatte er am Morgen eine riesige Sandbank hell aus den Wellen hervorschimmern sehen. »Warte auf dem großen Sand. Hast du verstanden?« Flo starrte ihn einen Moment lang an, als wäre er mit diesem Vorschlag überhaupt nicht einverstanden. Doch dann blinzelte er mit dem rechten Auge. »Flieg flach über dem Wasser, damit man dich nicht sieht«, flüsterte Toby und schaute sich vorsichtig um. Niemand hatte auf ihn geachtet. Flo blinzelte noch einmal und verließ gleich darauf die Canneloni. Als Toby sah, wie die großen, blauen Flügel sich elegant entfernten, musste er tief einatmen. Das ging ihm jedes Mal so, wenn Flo die Canneloni verließ, weil er nie wusste, ob er den blauen Flamingo je wiedersehen würde.
»Die Boote werden bald da sein«, brummte Käpt’n Sansibo und setzte sein Fernrohr ab. Living Tom hatte sich wieder hingesetzt, neben die anderen vier Männer. Keiner sprach ein Wort. Sie hielten die Köpfe gesenkt. Es wirkte so, als ob sie auf etwas warteten.
»Ihr solltet ’nen Berg Bratkartoffeln machen, Jungs«, sagte Käpt’n Sansibo, »die Männer werden ausgehungert sein.«
»Aye aye, Käpt’n«, sagte Bullerjan.
»Geht uns genauso so«, sagte Kullerjan. »Muss ich die anderen elf Männer auch hochtragen, wenn sie da sind?«
»Nein, das wird nicht nötig sein, glaub ich. Wer rudern kann, kann auch klettern«, erwiderte Käpt’n Sansibo und warf einen prüfenden Blick auf die fünf, die vor ihm auf dem Boden saßen. »Außerdem: Wer sitzen kann, kann auch Kartoffeln schälen«, fügte er etwas lauter hinzu. »Du da!« Er deutete auf den Mann ohne Bart, der Toby vorhin schon aufgefallen war. Er schien der Kräftigste der neuen Passagiere zu sein. »Wie heißt du?« Der Angesprochene hob den Kopf.
»Luis, Käpt’n.«
»Gut, also Luis. Schon mal ’ne Kombüse von innen gesehen?« Luis nickte zögerlich. »Na bestens. Du bist der erste, der meinen Jungs helfen darf.«
Als Luis mit Kullerjan und Bullerjan in der Kombüse verschwunden war, kam Leben in die anderen. Living Tom, der bisher vermieden hatte, Käpt’n Sansibo anzusehen, starrte auf Oma Zitrona, die auf der Schulter des Käpt’n zu schlafen schien. In Wahrheit war sie hellwach, seit sie Living Toms Stimme zum ersten Mal gehört hatte. Die anderen drei Männer begannen, sich umzusehen, blieben aber sitzen.
»Kann der Vogel sprechen?«, fragte Living Tom und deutete mit dem Finger auf Oma Zitrona. Diese öffnete ein Auge und richtete es auf Living Tom, aber sie hielt den Schnabel.
»Sie kann jedenfalls genauso gut schweigen, wie deine Kumpels«, erwiderte Käpt’n Sansibo. »Die scheinen sich irgendwie gar nicht zu freuen, dass wir sie gerettet haben, was Toby?«
»Ich weiß auch nicht, Käpt’n«, sagte Toby, der vom Bug zurückgekommen war. »Vielleicht haben sie Angst vor Ihnen. Sie wissen doch, wie abergläubisch Seeleute sind.«
»Was meinst du?«
»Na, Sie haben nur einen Stiefel an. Das kann man leicht für ein schlechtes Omen halten.« Living Tom und die anderen Männer wechselten ein paar rasche Blicke. Käpt’n Sansibo verkniff sich ein Grinsen und reckte sich. Doch bevor er etwas sagen konnte, hörten sie wieder ein Klopfen. Dreimal kurz, einmal lang, zweimal kurz. Es waren die beiden Boote, die die Canneloni erreicht hatten. Toby kam es einen Moment lang so vor, als wollten sie den anderen Männern, die schon an Bord waren, ein Zeichen geben. Er musste unbedingt allein mit Käpt’n Sansibo über seine Beobachtungen reden, doch vorerst kam es nicht dazu. Käpt’n Sansibo ging zur Reling, Toby folgte ihm. Elf Männer saßen in den Booten, aber nur einer schaute zu ihnen hinauf. Es war ein kleiner, sehr dicker Mann mit stechenden, blauen Augen. Er stand hinten in seinem Boot und hob einen seiner kurzen, dicken Arme.
»Bitte an Bord kommen zu dürfen, Käpt’n!«, rief er mit hoher Stimme.
»Kommt herauf!«, rief Käpt’n Sansibo.
»Ein höflicher Schiffbrüchiger«, murmelte er zu Toby, der neben ihm stand. Gemeinsam sahen sie zu, wie die elf Männer die Strickleiter erklommen. Der Dicke kam zuletzt und er kletterte erstaunlich flink mit seinen kurzen und dicken Armen und Beinen. Als er sich über die Reling schwang, saßen die zehn, die mit ihm gekommen waren, bereits neben Living Tom und den anderen auf den Planken. Sie bevölkerten das ganze Deck zwischen Kombüse und Kapitänskajüte. Der Dicke ließ seine stechenden Augen rasch über die Männer gleiten, so als würde er nachzählen, ob auch keiner fehlte.
»Wo ist Luis?«, fragte er denn auch prompt, doch dann besann er sich. »Bitte um Vergebung, Käpt’n. Es gehört sich nicht, seine Retter mit einer Frage zu begrüßen.« Toby bemerkte, dass er das Wort »Retter« seltsam aussprach.
»Ich bin Käpt’n Arbuk und das sind meine Männer von der Molly Black.« Dabei schaute er einem Mann scharf ins Gesicht. »Living Tom hier hat Ihnen sicher schon berichtet, was geschehen ist.« Living Tom senkte seinen Kopf und schwieg.
»Er hat tatsächlich eine Geschichte erzählt«, erwiderte Käpt’n Sansibo.
»Wir sind sehr froh«, sagte der Dicke. Acht Tage und Nächte sind wirklich genug, wenn man sie in solchen Nussschalen verbringen muss.«
»Immerhin sind sie noch am Leben«, sagte Käpt’n Sansibo. »Von acht Tagen und Nächten hat Living Tom allerdings nicht geredet.« Der Dicke schoss einen Pfeil aus seinen blauen Augen auf Living Tom ab, der sich wegdrehte.
»Ach was? Na ja – das wundert mich nicht. Für ihn war es das erste Mal, dass er schiffbrüchig wurde. Da kann man schon mal das Zeitgefühl verlieren, nicht wahr? Und was sagten Sie, wie Ihr Schiff heißt, Käpt’n?« Käpt’n Sansibo verschränkte seine Arme vor der Brust.
»Ich sagte noch gar nichts, was das angeht.« Für ein paar Sekunden starrten sich die beiden Käpt’ns stumm in die Augen. Toby fand es reichlich merkwürdig. Käpt’n Arbuk sagte zwar höfliche Worte, aber