Der Seelenspiegler. Liesbeth Listig
den Zug nach Assuan, der ihn in wenigen Stunden an sein Ziel schaukelte. Dort angelangt stieg er in einem Hotel ab, in dem vor vielen Jahren eine bekannte Autorin einen nun ebenso bekannten Kriminalroman verfasst hatte. Nachdem er sich zwei Tage an die klimatischen Verhältnisse gewöhnt hatte und seine Reiseplanung noch einmal durchgegangen war, begab sich Bernhard auf die örtliche Kommandantur.
Ein zackiger, sogar deutsch sprechender Oberist begrüßte ihn zuvorkommend und Bernhard musste unwillkürlich an seine letzte Reise hierher denken, als ein popliger Bankmensch ihn nicht gerade zuvorkommend behandelt und den „Ungläubigen“ mit seinem Anliegen abgewiesen hatte. Kein Vergleich mit dieser Situation, zumal Bernhard auch noch eine Genehmigung des Konsulats vorweisen konnte. Bernhard wurde zugesagt, ihn nach Kräften zu unterstützen und Kamele und einen vertrauenswürdigen Führer zu besorgen. Eine Tour in die Wüste sei aber wegen marodierender Banden, die seit einiger Zeit ihr Unwesen treiben würden, nicht ganz ungefährlich. Bernhard blieb jedoch nichts weiter übrig als das Risiko einzugehen, da er sein Doktorandenprojekt nicht gefährden wollte.
Die Uhren gingen in diesem Land ein wenig anders und so dauerte es noch weitere drei Tage bis Bernhard Bescheid bekam, dass er aufbrechen konnte. Mit dem Führer, der sich mit dem schönen Namen Ali vorstellte und der auch gebrochen Deutsch sprach, vereinbarte Bernhard, dass sie am Folgetag, nachts, noch vor Sonnenaufgang aufbrechen wollten. In der Kühle der Nacht war das Reiten erträglich, wenn das Reiten auf einem Wüstenschiff überhaupt als erträglich zu bezeichnen war. Der Passgang des Kamels reizte bereits kurze Zeit nach dem nächtlichen Aufbruch den Magen des Forschungstouristen. Bernhard musste Halt machen und ein Medikament gegen Seekrankheit, das er vorsorglich eingepackt hatte, einwerfen.
Während der „Einwirkzeit“ und der damit verbundenen Zwangspause erzählte Ali begeistert von seiner Herkunft und von seiner Familie. Er sei Nubier und würde nun mit seiner Frau und vier Kindern am Rand von Assuan leben. Der Rest seiner großen Sippe würde in dem neugebauten Ort, bei dem Tempel Abu Simbel leben und sich dort mit allerlei Arbeiten durchschlagen. Früher hätten seine Vorfahren dort am Nil vom Fischfang gelebt. Aber ganz Nubien sei ja leider im Stausee versunken.
Durch Alis Erzählungen war Bernhards Brechreiz soweit in den Hintergrund getreten, dass einem erneuten Aufbruch nichts mehr im Wege stand. An das Schaukeln gewöhnte Bernhard sich nur langsam, aber stetig ging es ihm besser. Vor der Zwangspause waren sie bereits über die Nilbrücke und an die neugebaute Autobahn, die in Richtung Abu Simbel führte, gekommen. Einige Kilometer trotteten sie an der Autobahn entlang, jedoch im Sand und nicht auf der neuen Asphaltdecke, um die Sohlen der Reittiere zu schonen. Militärfahrzeuge und Reisebusse mit tempelhungrigen Touristen flogen an ihnen vorbei und in den sich ankündigenden Sonnenaufgang.
Ali winkte Bernhard heran und bedeutete ihm, dass sie nun auf die alte Straße abbiegen wollten. Es war der Restteil des Weges, den Bernhard von der früheren Reise und der Tour nach Abu Simbel kannte. Die pyramidenartige Landschaft, die in Jahrtausenden durch ständig erneut auftretende Sandstürme geformt wurde, zog an ihnen vorbei und trotz der Eintönigkeit der immer wiederkehrenden Bilder, konnte der erwartungsfrohe Bernhard sich nicht daran sattsehen. Dann ließen sie den Rest der Straße und der Zivilisation hinter sich und bogen ab, hinein in die Wüste.
Gespaltene Persönlichkeit
Nach einigen Stunden Wüstenschifffahrt, in denen nicht nur die Sonne anfing zu brennen, sondern auch Bernhards Forschergesäß einem Mantelpavian alle Ehre gemacht hätte, bremste selbiges seinen enthusiastischen Forschergeist und er war sehr froh, als Ali endlich zur Pause riet. Die heraneilende Mittagshitze war weder den Tieren noch den menschlichen Kamelen, die sich in die Wüste gewagt hatten, zuträglich. Sie wollten lieber am späten Nachmittag die Reise fortsetzen und in die kühle Nacht hineinschaukeln. Das kleine GPS-Gerät und die Sterne würden ihnen schon den richtigen Weg weisen. Am Tage waren sie sowieso ausschließlich auf die moderne Technik angewiesen, da die Wüste, zumindest für nicht Ortskundige, keine Landmarken zur Orientierung bereithielt.
Den Kamelen wurde ein Vorderbein hochgebunden, damit sie nicht das Weite suchen konnten. Dann wurde im Schatten einer „Naturpyramide“ das Lager aufgeschlagen und, nachdem die Kamele versorgt waren, Pfefferminztee bereitet. Bernhards wunder Hintern wurde von der sich ins Fleisch gefressenen Unterhose befreit und mit Salben und Wundauflagen versorgt. Was hätte er alles für einen Kamelsattel mit Dekubituskissen, welches beim Reiten die Reibungsstelle freigelassen hätte, gegeben. Aber das sollte in der kommenden Zeit Bernhards kleinste Sorge sein.
Ali schreckte auf. Auf einer großen Düne waren gegen die Sonne die Schemen mehrerer Reiter sichtbar geworden, die Ali mit Argwohn durch die halb geschlossenen Augen zu erkennen trachtete. Es war zu spät die Kamele in den Schatten des Hügels zu ziehen. Sie hatten die Blicke der fragwürdigen, fremden Reiter bereits auf sich gezogen. In dieser Einsamkeit konnte es nicht unbedingt etwas Gutes bedeuten, wenn ein Treffen mit zahlenmäßig überlegenen Mitmenschen anstand. Und Bernhard und Ali waren unbewaffnet. Ali fuchtelte nun wild mit den Armen und bedeutete Bernhard in seiner Sprache, seine Deutschkenntnisse vergessend, dass eilige Flucht angesagt sei. Nun sah Bernhard es auch. Die drei Reiter waren schwer bewaffnet und führten sicher nichts Gutes im Schilde. Humpelnd mit schmerzendem Gesäß versuchte Bernhard das widerspenstige Kamel dazu zu bewegen, sich die Fußfessel abnehmen zu lassen. Ali saß bereits im Sattel und gab mit lauten Rufen, „Hat, hat, hat“, sein Kamel antreibend, Fersengeld. An Flucht war für Bernhard nicht mehr zu denken. Geistesgegenwärtig warf er noch sein GPS-Gerät in den Sand und schob einen Stein mit dem Fuß darüber als die Reiter, die ihn böse über ihre Mundschutztücher hinweg anstarrten, ihn umringten. Wenigstens würde seine Leiche gefunden werden, wenn das GPS-Signal lange genug durchhielte, schoss es Bernhard durch den Kopf. Er würde nicht als Gerippe die Wüste schmücken, wie es wohl manch anderem Kamel ergangen war.
Die bösen, waffenschwingenden Krieger machten sich nicht die Mühe, Ali zu verfolgen. Sie hatten eigentlich andere grausame Taten vor und diese Leckerbissen hatten sie nur aufgehalten. Der Anführer hob einen schwertähnlichen, scharfen Gegenstand, der wunderbar in der Sonne glitzerte, und hieb ihn Bernhard über den Schädel. Die Schädeldecke knackte. Bernhard dachte noch, dass er sich einen Akademiker-Schmiss immer anders vorgestellt hatte, und versank in tiefer Bewusstlosigkeit. Die drei Reiter rasten auf ihren schnellen Pferden in den Abend hinein und ihren grausamen Taten entgegen. Sie würden wiederkommen, um sich dann später um die liegengelassene Beute zu kümmern. Dieser Fremde würde ihnen nicht mehr davon laufen.
Langsam erwachten die wenigen, verbliebenen Lebensgeister und Bernhard öffnete ein Auge. Das zweite wollte ihm nicht gehorchen und als er das viele Blut gewahrte, welches der Sand gierig aufnahm, brach fast sein letzter Lebenswille. Nach einer Weile ließen ihn jedoch Schmerz und Wut über das Erlebte zumindest den Versuch wagen, in den Schatten zu kriechen. Die Sonne hatte den Vormittag bereits hinter sich gelassen und Bernhard hatte wohl nicht den Wecker gehört. Er kroch um das Lager herum und sah einen Skorpion der, wohl vor dem grausigen Anblick flüchtend, in einer Felsspalte verschwand. Ein wenig den Kopf hebend sah der einäugige Bernhard, dass es nicht nur eine Felsspalte sondern eine recht geräumige Höhle gab, die etwas Kühle versprach. Tiere und Untiere waren Bernhard egal geworden und so zog er sich mit letzten Kräften hinein ins Ungewisse. Hier ruhte er sich, in einen Koma ähnlichen Schlaf verfallend, erst einmal von dieser Strapaze aus. Der Tod nahte, aber zu dieser Zeit wollte ihn weder der Teufel, den es mit Sicherheit gab, noch ein Gott, wenn es ihn denn gab, haben.
Als Bernhard, mit ein paar neuen Kräften versehen, wieder erwachte, konnte er beide Augen erneut zum Sehen bewegen. Sein Schädel schmerzte unbeschreiblich und war wohl mit einem offenen Bruch versehen. Zumindest war der Blutfluss zum Erliegen gekommen. In der kleinen Höhle, die ihn sicherlich vor dem Austrocknen gerettet hatte, konnte Bernhard nun erkennen, dass etwas Merkwürdiges in der Wand steckte. Es schimmerte metallen und war ebenmäßig geformt und viel zu glatt für etwas natürlich Gewachsenes. Was war das nur? Wie im Stein eingewachsen schien es zu sein. Eventuell könnte es ein Teil einer großen Scheibe sein, die der Stein umgab und fest verankerte? Noch als Bernhard das Ding ungläubig betrachtete, rumorte es darin. Wenn Bernhard dazu in der Lage gewesen wäre, wäre er entsetzt zurückgewichen, oder hätte sich zumindest ungläubig an den schmerzenden Kopf gefasst.