Nirgendsmann. Markus Szaszka

Nirgendsmann - Markus Szaszka


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sich die Schönhauser Allee, die Alte Schönhauser Straße, die Rosa-Luxemburg-Straße und die Torstraße auf ein Schwätzchen trafen. Da war aber noch etwas anderes, das mir erst an diesem Abend auffiel.

      Diese vielen jungen Menschen strotzten nur so vor Kraft, und wenn sie es gewollt hätten, hätten sie die gesamte Welt aus den Angeln heben können. Sie sahen gut aus, waren gepflegt, gut genährt, gebildet und mit Technologien ausgestattet, die das Apollo 11 Raumschiff zum Spielzeug degradierten. Man hätte denken können, dass tatsächlich alles gut war, 2018, auf der Torstraße, in Berlin.

      Ein Trugschluss.

      Dann passierte etwas, was noch nie zuvor passiert war. Ich, der Beobachter, wurde Teil des Stückes. Wider Willen fand ich mich auf der Bühne wieder und sah mir selbst dabei zu, wie ich über die anderen richtete. Aber es waren nicht mehr die anderen, sondern es waren wir, die keine Tageszeitungen lasen und keine Nachrichten sahen, um möglichst effektiv zu vergessen, woher unsere Burger, Drinks, Klamotten und Handys kamen.

      Plötzlich fiel es mir schwer zu leugnen, dass jeder, der an diesem Abend und an diesem Ort anwesend war, inklusive mir, die Möglichkeit dazu hatte, für die ungeschriebene Zukunft dieser Erde, einer Tabula rasa, die etwas Farbe vertragen konnte, etwas Gutes zu tun. In Wirklichkeit tat aber niemand etwas und wir ließen das Blatt weiterhin vergilben, obwohl jeder wusste, dass es so nicht weitergehen durfte.

      An Meinungen mangelte es nicht, an Überzeugungen auch nicht, aber was konnte man schon tun? Etwas zu tun, bedeutete, sich anzustrengen, und das wollte kaum einer. Die meisten von uns wollten sich nur gut fühlen, gut essen, trinken und sich anderweitig berauschen.

      Sich ab und zu aufzuregen, wie schlecht die Bedingungen in den Fabriken in Bangladesch waren, oder darüber zu staunen, wie viel Wasser verbraucht wurde, damit ein Steak seinen Weg auf den Teller finden konnte, das genügte, um kein allzu schlechtes Gewissen zu haben, während man ein 5-Euro-Shirt trug und einen fetttriefenden Doppel-Cheeseburger für 2,29 € verdrückte.

      Wir waren zu gemütlich geworden, um wirklich begreifen zu können, was wir da anrichteten; weichgemacht von einer Generation, deren Selbstbild noch intakt war. Du kannst alles werden, was du willst, hatten sie uns gesagt.

      Da waren wir also, erwachsen, und stellten fest, dass unsere Eltern uns angelogen hatten.

      Was für eine Szenerie! Das neue Jahrtausend, wie es leibte und lebte. Dreißigjährige, die sich immer noch wie Teenager verhielten, lächerliche Klamotten trugen, jegliche Verantwortung von sich wegschoben, infantile Scherze machten, sich durchs Leben wuselten, in den Tag hineinlebten und noch immer unzufrieden waren.

      So lief es in einer der angesagtesten Städte der Welt, hier konnte man ein gedankenloses Arschloch sein und fiel nicht weiter auf.

      Wozu ein Buch lesen, wenn es Bier gibt?, wäre ein passender Titel für diese Aufführung gewesen.

      The End.

      Die Laterne über mir ging an und bald würde es auch dunkel genug sein, damit das künstliche Licht Sinn ergab. Direkt neben mir fuhr ein Typ auf einem Segway beinahe eine Frau in einem futuristisch anmutenden Plastikfetzen als Kleid über den Haufen.

      Man konnte sich wirklich leicht täuschen und denken, die Zukunft sei hier, aber wie konnte die Zukunft hier sein, wenn der Mensch der gleiche geblieben war, wie ein Anfang zwanzigjähriges Mädchen auf der anderen Straßenseite deutlich machte, indem sie ein AfD-Plakat auf einem Rohrpfosten montierte, danach mechanisch etwas in ihr Smartphone tippte und seelenruhig weiterging, mit einem vollen Rucksack weiterer blauer Plakate auf dem Rücken?

      Kaum einer bemerkte, was sie getan hatte, denn dazu waren die meisten von uns Millennials viel zu sehr mit Nichtstun beschäftigt. Und die, die sie bei ihrer Schandtat gesehen hatten, unternahmen nichts dagegen. Das war meine Gruppe.

      Jetzt wird's Zeit, dachte ich und meinte ein kühles Bier, überquerte die Torstraße, bog erst in die Alte Schönhauser Straße und dann in die Linienstraße, wo ich in Ruhe flanieren und nachdenken konnte, so wie ich es von Anfang an geplant hatte.

      Das einzige Problem war, dass ich gar nicht mehr allein sein wollte. Die paar Straßenzüge, in denen ich herumgewandert war, und die wenigen Gedanken, die ich mir gemacht hatte, hatten ausgereicht, um meine Welt wieder geradezurücken und mich zu erden. Ich war bereit, sehnte mich sogar nach einem Gespräch mit einem anderen Gespenst – zur Not auch mit einem menschlichen Wesen.

      Mit meinen Händen in den Taschen, leicht gebeugt und meinen Blick nach vorne gerichtet, spazierte ich die Linienstraße entlang in Richtung Rosenthaler Platz.

      Anastasia.

      Gemeinsam mit diesem Namen entfaltete sich ungewöhnlich detailreich ein Gesicht vor meinem inneren Auge. Es war ein sehr hübsches Gesicht, rundlich, aber nicht dick, blass, aber nicht ungesund, die gewellten blonden Haare reichten bis zur Schulter, und wenige Sommersprossen zierten rosa Wangen. Diese Wangen gehörten meiner besten Freundin, der einzigen richtigen Kumpanin, die ich in Berlin hatte und die ich liebte, wie man nur seinen besten Freund lieben konnte.

      Sie zu treffen, das ging nicht. Seit drei Monaten lebte Anastasia bereits in Paris, wo sie ein Praktikum absolvierte, aber es sollte nicht mehr lange dauern, bis sie zurückkehrte, und mit ihr die Normalität. Das war ein Grund zur Freude, denn ohne meinen Engel drohte ich, meinen Verstand zu verlieren. So fühlte es sich zumindest an.

      Soll ich nochmal zurück und Olli holen?, fragte ich mich. Der saß bestimmt noch immer am selben Fleck und trank seine Flasche Fusel leer. Nein, Zurückgehen war keine Option. Zurückgehen war nie eine Option, nicht während meiner Spaziergänge, meiner unspektakulären Abenteuer, die mir heilig waren. Abgesehen davon hatte ich nicht gerade eine hundertprozentige Lust auf die Wieselspinne. Mein Nachbar war schon okay, aber wir kannten uns noch nicht derart gut, dass ich in seiner Gegenwart ich selbst sein konnte.

      Olli hatte mir mit ein paar Kartons geholfen, als ich ins Haus eingezogen war, danach hatten wir bei ihm gekifft und Super Smash Bros. auf der N64 gezockt. Ein anderes Mal hatten wir uns zufällig beim thailändischen Imbiss im Erdgeschoss unseres Hauses getroffen, gemeinsam gegessen, ein paar Biere getrunken und dann bei ihm gekifft und Musik gehört. Ein paar weitere Male hatten wir bei seinem Fenster geplauscht, über das, was wir beruflich taten und woher wir kamen, was wir zu tun gedachten und Ähnliches. Währenddessen hatten wir – natürlich – gekifft. Mit Olli ging das schwerlich anders.

      Jetzt, während ich den Rosenthaler Platz überquerte, hatte ich keine Lust auf ein Kennenlern-hin-und-her-Geplänkel, das anstrengend für mich gewesen wäre, weil ich schon beinahe verlernt hatte, wie das ging. Von einem Geist war das wohl nicht anders zu erwarten, nahm ich an.

      Das Labyrinth war eine gemütliche Kneipe mit vielen winzigen, über enge und verästelte Flure miteinander verbundenen Räumen, gutem Bier und unanständiger Rockmusik. Drinnen sah es aus wie in Draculas feuchtesten Träumen: schwaches Licht trotz unzähliger Kerzen, gepolsterte Sitzmöbel, samtene Tischdecken, Kunst an den kahlen, unrenovierten Wänden, an denen nur mehr stellenweise Tapetenreste hingen, die Räumlichkeiten in burgunderrot und kastanienbraun gehalten. Im Labyrinth war es zu jeder Tageszeit dunkel, dafür sorgten dicke schwarze Stoffvorhänge. Viele Gäste störten sich an dieser vampirischen Atmosphäre, weil sie sich beim Sehen anstrengen mussten, andere fanden sie kultig, ich hatte einfach nur Glück, dass der Besitzer a) ähnlich lichtscheu war wie ich und b) eine ausgezeichnete Bierauswahl anbot.

      Um diese Uhrzeit, kurz vor zwanzig Uhr, war der Laden blutleer und beinahe leblos, denn zur Geisterstunde kamen lediglich Gespenster, solche wie ich. Richtig voll würde es erst zwischen einundzwanzig und zweiundzwanzig Uhr werden.

      Ganz hinten, in einer Ecke, am Ende des länglichen Tresens, saß ein mir unbekanntes Phantom. Es hatte ein aufgeschlagenes Buch vor sich liegen, trank wässriges Bier und unterhielt sich sporadisch mit Jens dem Barkeeper, um nicht gänzlich zu vereinsamen. Das konnte ich sehen, weil es manchmal auch meine Taktik war.

      Die Giftmischer der Stadt waren diejenigen Unsichtbaren, die ich am häufigsten sah


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