Verlorenend - Fantasy-Epos (Gesamtausgabe). S. G. Felix
Was ist das?«
»Die Largonen leben weit im Süd-Westen von Truchten. Es sind Wesen, die etwa dreimal so groß sind wie wir Menschen.
Sie leben sehr zurückgezogen. Ihre Stadt ist von einer riesigen Mauer umgeben. Viel mächtiger als die Mauer von Fara-Tindu. Soweit ich weiß, hatten sie schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zur Außenwelt.«
»Wieso sollte ich dort hinreisen? Ist Brelius dort hingegangen? Ist dort etwa das Zeittor, von dem er gesprochen hatte?«
»Das Zeittor befindet sich dort, ja. Also wird er auch dort sein«, sagte sie, als wisse sie es ganz bestimmt. Sie drehte sich dann endlich zu Antilius um und schaute ihm dieses Mal in die Augen.
Was er in ihrem Gesicht sah, war das, was er erwartet hatte, aus ihrer Stimme aber nicht entnehmen konnte. Schmerz las er aus ihren wunderbar grünen Augen, die von dunklen Augenringen umgeben waren. Sie hatte wohl in letzter Zeit nicht sonderlich gut schlafen können, und viel geweint hatte sie auch, das konnte er sehen. Sie versuchte vergeblich, es sich nicht anmerken zu lassen, und Antilius bemühte sich vergeblich, so zu tun, als hätte er es nicht bemerkt.
»Was wisst Ihr über das Tor?«, fragte er fast flüsternd.
»Wie ich aus einigen sicheren Quellen erfahren habe, existiert dieses Tor, und es wird von den Largonen bewacht. Wahrscheinlich leben sie deshalb so abgeschieden vom Rest der Welt. Sie sind die Wächter des Zeittores, schon seit Jahrhunderten.«
»Aber wenn die Largonen es bewacht haben, wie ist es dann Brelius gelungen, durch das Tor zu treten, ohne von ihnen bemerkt zu werden? Er hat jedenfalls nichts in seinem Stimmen-Kristall darüber aufgezeichnet. Er sagte, die Stadt, in der er sich befunden hatte, wäre unbewohnt, und er sprach nur von einem unterirdischen Raum, in dem er gewesen sein will.«
»Er hat mir nichts davon erzählt. Er erwähnte keine Riesen. Ich weiß nicht, wie mein Vater es gemacht hat. Ich weiß nur, dass er das Zeittor benutzt hat.«
»Wem gehört die Stimme, die Brelius in seinen Träumen gehört hat? Die Stimme, die ihn manipuliert hat und befohlen hat, zum Zeittor zu gehen, meine ich.« Antilius war am ganzen Körper angespannt.
»Ich bin mir ziemlich sicher, wer dahinter steckt«, sagte Telscha. »Sein Name ist Koros Cusuar. Er ist ein Mensch, der über ein kleines Reich im Norden dieses Landes verfügt. Er war früher einmal die rechte Hand des Kanzlers von Truchten. Er gab sich jedoch nie mit seiner zweiten Position zufrieden und trennte sich von ihm, um sein eigenes Reich zu gründen. Ein Reich der Gesetzlosigkeit.«
»Aber wie hat dieser Koros es angestellt, Brelius in seinen Träumen zu erscheinen?«, warf Gilbert ein, der äußert gebannt Telschas Ausführungen gefolgt war. Er hatte sich eigentlich vorgenommen zu schweigen, aber die Neugier ließ die Frage aus ihm herausbrechen.
Nicht sonderlich überrascht darüber, einen Mann in einem kleinen Spiegel zu sehen, antwortete sie: »Ich habe erfahren, dass Koros über telepathische Kräfte verfügt. Er ist der einzige Mensch auf der Fünften Inselwelt, von dem gemunkelt wird, dass er über diese besondere Fähigkeit verfügt.«
Sofort lief Antilius wieder ein kalter Schauer über den Rücken, und er erinnerte sich an seinen Traum von der Schlucht und dem Mann ohne Gesicht.
»Ich weiß nicht, wieso, aber ich bin davon überzeugt, dass Koros Brelius irgendwie gebraucht hat, um an das Tor zu kommen. Er konnte oder wollte es nicht selbst tun«, sagte Telscha.
Gilbert runzelte die Stirn. »Aber Moment mal! Was sollte dieser Koros denn mit dem Zeittor überhaupt anfangen?«
Telscha schaute Gilbert im Spiegel fest an. »Das liegt doch auf der Hand. Er möchte es benutzen. Wer durch die Zeit reisen kann, der kann die Vergangenheit und damit auch die Zukunft verändern.«
»Und zwar zu seinen Gunsten«, fügte Antilius hinzu.
Gilbert schwieg einen Moment, um seine Gedanken zu ordnen. »Verstehe. Aber Brelius sprach noch von viel Schlimmerem. Er sagte, Koros würde zu einem Wesen werden, das weder Zeit noch Tod fürchten müsse. Alleine durch Zeitreisen? Also ich verstehe das nicht richtig.«
Antilius begann, nachdenklich auf und ab zu laufen. So konnte er sich besser konzentrieren. »Du hast recht, Gilbert, da steckt noch mehr dahinter. Ich glaube kaum, dass Zeitreisen einen unsterblich machen können.«
»Und was ist mit den Largonen? Sie werden bestimmt nicht einfach zugesehen haben, wie sich jemand des Zeittores bemächtigt, wenn sie es doch beschützen wollen«, fragte wieder Gilbert.
»Es gibt hierbei noch viele unbeantwortete Fragen. Aber mich beunruhigt noch eine ganz andere Sache«, begann Telscha mit einem niedergeschlagenen Gesichtsausdruck.
»Mein Vater maß dem Fremden, der das Tor zu seinen Zwecken missbrauchen will, zwar große Bedeutung bei. Aber da gab es noch etwas anderes. Etwas Größeres, Unheimlicheres, das ihm Angst machte.«
»Was meint Ihr?«
»Ich bin mir nicht sicher, aber mit diesem Tor scheint eine andere Bedrohung erwacht zu sein. Eine, die auf der anderen Seite dieses Tores schläft und nun erwacht ist oder dabei ist zu erwachen. Etwas unvorstellbar Böses wird über dieses Land ziehen. Das hat mein Vater gesagt.«
»Vielleicht meinte er aber auch diesen Koros?«, mutmaßte Antilius. Er hoffte es, aber irgendwie fühlte er, dass Koros nicht das einzige Problem sein würde.
»Das glaube ich nicht. Hier ist etwas Größeres im Spiel. Es ist nur so ein Gefühl von mir. Ich habe manchmal solche Ahnungen. Es ist wie ein düsteres Puzzle, und Koros, mein Vater und du, Antilius, sind ein Teil davon.«
Der letzte Satz ließ Antilius erschaudern. Nicht nur, was Telscha sagte, sondern dass sie Antilius jetzt mit ‚du’ anredete. Dadurch fühlte er sich irreversibel in die Pflicht genommen, dieses Rätsel zu lösen und Brelius zu finden. In diesem Moment musste er wieder an seinen Traum denken, den er zu Beginn seiner Ankunft geträumt hatte.
Was hatte Antilius selbst mit dieser Sache zu tun? Und warum war er ein Bestandteil von Brelius’ Träumen?
Es hat etwas mit deiner Vergangenheit zu tun. Es hat mit dem zu tun, woran du dich nicht mehr erinnern kannst, dachte er.
»Ich darf doch 'du' sagen, oder?«
»Sicher«, sagte er geistesabwesend, was Telscha nicht entging.
»Was hast du?«
»Das ist alles so verrückt. Das alles wirft nur noch mehr Fragen für mich auf. Eine unbeschreibbare Bedrohung und ein Fremder, der mich um Hilfe bittet«, sagte er mit verstörter Miene.
Telscha trat einen Schritt näher an ihn heran. »Du musst meinen Vater finden! Bitte! Du musst gehen und ihn suchen. Nur dann wirst du deine Antworten finden.«
Antilius ging zum Fenster, aus dem zuvor Telscha geschaut hatte und versuchte, irgendwo da draußen etwas zu finden, das ihm die Entscheidung darüber abnehmen würde, was er jetzt unternehmen sollte. »Selbst wenn ich mich bereit erklären würde, Brelius zu suchen. Woher weiß ich, dass er auch dort ist? Ich weiß ja nicht einmal, wie ich dort hingelangen soll, geschweige denn, wo genau sich die Festung befindet. Das ist kein Spaziergang. Gemäß dem Tagebuch deines Vaters war er wahrscheinlich über zwanzig Tage unterwegs.«
»Mein Vater wird dort sein. Davon bin ich überzeugt.
Ich habe eine Karte in der Alten Bibliothek gefunden. Sie ist zwar nicht unbedingt sehr genau, aber sie wird dich zu deinem Ziel leiten.« Telscha bückte sich nach einer alten Truhe, auf der eine Schlingpflanze wuchs, befreite den Deckel von dem violettfarbenen Gestrüpp, öffnete sie und holte ein kleines und sehr schmutziges Stück Papier heraus. Sie entfaltete das Blatt und hielt es Antilius vor die Brust.
Er zögerte. Die Karte in die Hand zu nehmen, würde für ihn endgültig bedeuten, sich gegenüber Telscha zu verpflichten, die Suche nach Brelius fortzusetzen und gleichzeitig eine Reise ins Ungewisse anzutreten. Sie schaute ihm tief in die Augen und dann sprach sie das aus, von dem Antilius ahnte, dass sie es schon, als