Wenn wir 1918 ……. Walter Muller

Wenn wir 1918 …… - Walter  Muller


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Lange nach Dunkelwerden kamen die letzten.

      Das Fest der Weltrevolution

      Der Empfang in Kiel war überwältigend. Schon draußen an der Außenförde waren beide Ufer schwarz von Menschen. Von Bülck und Schilksee bis Friedrichsort, auf der anderen Seite vom Schönberger Strand bis nach Laboe ein Meer von Menschen und roten Fahnen. Als die Spitze den Leuchtturm von Friedrichsort passierte, begannen alle Sirenen der Kieler Fabriken und Werften zu pfeifen. Die Glocken läuteten. Hunderte von Pinassen, Barkassen, Hafendampfern, Küstendampfern, unzählige Segel-, Motor- und Ruderboote umschwärmten die einfahrende Flotte. Überall rote Fahnen. Es war ein Triumphzug in das Herz der Revolution, in das rote Kiel, wo zuerst die Flamme des Aufruhrs in Mitteleuropa emporgelodert war. Hier, am Ursprungsort der deutschen Revolution, wurde der Sieg der Weltrevolution gefeiert. Von der Strandpromenade her dröhnte der Jubel von Zehntausenden. Die Kriegsschiffe aller Nationen antworteten mit Sirenengeheul und Hunderten von Salutschüssen. Von der Marineakademie und von der feudalen Seebadeanstalt her grüßten rote Fahnen. Dort hat früher die Internationale der Ausbeuter, der Rüstungsfabrikanten und der adligen Militärs ihre Feste gefeiert.

      Das Gewimmel im Hafen wurde beängstigend. Den einfahrenden Schiffen fiel es immer schwerer, die notwendigen Manöver auszuführen und Platz zu finden. Als aber dann die Anker gefallen waren, setzte eine wahrhaft internationale Invasion ein. Gemeinsam mit den Arbeitern und Frauen Kiels kamen englische, französische und amerikanische, russische und belgische Soldaten an Bord, die von den Wellen der Revolution hierher verschlagen worden waren. Das interbaltische Komitee delegierte von jedem Schiff eine kleine Abteilung zur Begrüßung der roten Landtruppen, die in den nächsten Stunden in Kiel einrücken sollten. In den Straßen Kiels herrschte ein lebensgefährliches Gedränge. Mehr als dreihunderttausend Menschen, weit mehr, als Kiel Einwohner hat, waren bereits in Kiel zusammengeströmt, und weitere Massen wurden noch erwartet. Alle Schulen, Säle, öffentlichen Gebäude, Kasernen und Schiffe waren mit roten Truppen voll gestopft. Jede Arbeiterfamilie hatte rote Einquartierung. Die Villen in Düsternbrook wurden beschlagnahmt und mit roten Soldaten und Matrosen belegt. Immer neue Massen strömten heran, um das Fest der internationalen Verbrüderung mitzumachen. Das freudigste Fest, das es je gegeben hat und zugleich das dürftigste, wenn man das Festessen als wesentlichsten Bestandteil eines Festes ansehen will. Es reichte nicht einmal für den Hunger. Und doch überall freudige und strahlende Gesichter. Die roten Soldaten und Matrosen teilten brüderlich ihre Ration mit ihren Quartiergebern. Die Arbeiter des Schlachthofes hatten eine Nachtschicht eingelegt, um dem dringendsten Mangel wenigstens in diesen Tagen abzuhelfen. In der ganzen Umgebung wurde alles erfassbare Vieh aufgekauft und teilweise requiriert. Jeder wusste, dass uns weitere Hungermonate, ja vielleicht sogar Hungerjahre bevorstehen; aber einmal, am Tage der Weltrevolution, sollten sich doch die roten Arbeiter und Soldaten satt essen. Kiel war überfüllt. Nicht nur die Häuser und Schiffe, auch die Dächer, die Straßen und der Hafen. Und noch immer strömten neue Massen in die Stadt. Die Menschen standen fast übereinander, klebten auf Laternen und Häuserfronten, die jetzt zum ersten Mal seit langer, langer Zeit wieder hell erleuchtet waren. Immer wieder ertönten die Klänge der Internationale. Tausende sangen sie mit, in allen Sprachen. International waren die Hunderttausende von spalierbildenden Menschen. International die Kapelle und international die roten Truppen, die jetzt unter den Klängen roter Märsche herankamen. Russische Soldaten marschierten neben Kieler Werftarbeitern, die noch die Arbeitskleidung trugen, in der sie zur Verteidigung der roten Festung geeilt waren. Englische und französische Matrosen in Reih und Glied mit deutschen feldgrauen Infanteristen. Rote Kosaken neben deutschen Ulanen. Ratzeburger Jäger, 76 er und 85 er Infanteristen neben den Textilarbeitern von Neumünster und den Schuhmachern und Schlächtergesellen aus Preetz. Dahinter einige Gruppen amerikanischer Soldaten. Und wieder Engländer, Russen, Franzosen und Deutsche, nebeneinander, hintereinander. Das sind die roten Verteidiger der Südfront, die der letzte Vorstoß der kapitalistischen Truppen bis hinter Bordesholm zurückgeworfen hatte. Jetzt kommen die ersten geschlossenen englischen Formationen, sie rebellierten bei Voorde und überschritten die Eiderlinie nicht mehr als Feinde, sondern als Freunde unter wehenden roten Fahnen.

      Und zum Schluss, lange nach Mitternacht, marschieren die Abteilungen der Hamburger Arbeiterwehr heran. Sie haben Neumünster von Süden her wieder eingenommen und sind auf der Eisenbahn weiter vorgerückt, um die letzten englischen Truppen gefangen zu nehmen. Trotz aller Eile kamen sie zu spät Überall stießen sie auf rote Fahnen und auf rote Armbinden. Hundemüde sind die Hamburger Genossen. Seit Beginn des Aufstandes in Hamburg haben sie kaum einmal eine volle Stunde richtig schlafen können. Aber sie marschieren weiter unter den Klängen unserer Kampflieder. Sie haben es sich verdient. Sie müssen dabei sein beim Fest der Weltrevolution.

      Extrablätter werden verteilt:

      Die „Aurora" liegt draußen auf der Reede und verlangt einen Lotsen. Die „Aurora", das erste rote Schiff, das 1917 den Kampf für die Revolution aufgenommen und den Sieg der Revolution in Petrograd eingeleitet hatte. Die „Aurora" durfte beim Siegesfest der Weltrevolution nicht fehlen. Weshalb kommt sie erst jetzt? Sie hat am Sund Wacht gehalten und dann in Trelleborg die Mannschaft des havarierten deutschen Kreuzers „Augsburg" aufgenommen. Recht so, „Aurora" und „Augsburg", die Helden von Petrograd und Hamburg, gehören zusammen. Auch Mitglieder der schwedischen Räteregierung sind an Bord.

      Drei Uhr nachts. Immer noch ballen sich in den engen Straßen der Altstadt dichte Menschenmassen. Dicht gedrängt stehen Zehntausende von Menschen, die zusehen wollen, wie die ersten Helden der deutschen, russischen, dänischen und schwedischen Revolution ihren Einzug in den roten Kieler Hafen halten.

      Alle Schiffe im Hafen sind hell erleuchtet Drüben auf den Höben von Möltenort, Kitzeberg, Heikendorf und Ellerbek brennen Freudenfeuer. Manchmal werden in ihrem flackernden Schein die Silhouetten von Menschenmassen und Fahnen sichtbar. Stadt und Hafen wurden, soweit es in der Eile möglich war, illuminiert. Jetzt flammen die Scheinwerfer bei Friedrichsort auf. Das Scheiriwerferspiel beginnt im ganzen Hafen. Im grellen Lichte vieler hundert Scheinwerfer, unter dem Aufblitzen der Salutschüsse und dem Aufleuchten unzähliger Leuchtraketen ziehen die rotgeschmückten Truppen der Revolution langsam herein. An der Reeling und in den Masten: Kopf an Kopf rote Matrosen. Ein Feuersignal flammt auf, und jetzt setzen auf einen Schlag alle Schiffskapellen ein und spielen die Internationale. Feierlich dringen die Klänge über das Wasser. Hunderttausende fallen ein. Vielleicht sind es jetzt schon mehr als eine halbe Million Menschen, die diese Triumphstunden der Revolution miterleben. Musik und Gesang von allen Ufern und allen Schiffen durchdringen sich und verschmelzen zu einem einzigen feierlichen Massenbekenntnis zur Menschheit von morgen, zum Gedanken der Vereinigung aller Werktätigen in der ganzen Welt, zum internationalen Sozialismus. Im Osten hellte sich schon der Horizont auf, als die letzten Akkorde machtvoll verhallten. Ein neuer Tag bricht an, der Menschheitsmorgen dämmert. Die Strahlen der Wintersonne kämpfen sich durch den Nebel. Sie können noch nicht wärmen. Aber verheißungsvoll sagen sie uns, dass die Wintersonnenwende vorbei ist, dass bald der Frühling uns erstehen, dass bald die Sonne für alle scheinen wird, dass wir uns nicht fürchten sollen vor den kalten und trüben Monaten, die wir bestehen und bezwingen müssen, wenn wir den Menschheitsfrühling erleben wollen. Noch ruht die Macht der Vergangenheit schwer auf uns. Viel Schutt und Asche muss weggeräumt, viel Arbeit muss noch geleistet werden. Aber unter Asche, Schutt und Trümmern, unter Eis und Schnee sprießt doch das Neue, das Zukunftsträchtige. Mächtig und hoffnungsfreudig drängt es bereits zum Licht!

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